SECHSZEHN

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Am späten Nachmittag verabschiedete ich mich von Jack. Obwohl er immer wieder beteuerte, dass alles okay sei, fühlte ich mich wie der größte Versager. Erst habe ich nicht gerafft, was ich für ein dämlicher Freund war und bin von einem Fettnäpfchen ins nächste getreten. Dann erklärte er mir, wie schlecht es ihm ging und was wirklich passiert ist, doch ich bekam es kaum hin ihn zu trösten. Anstatt ihn zu Supporten, indem ich sein Start-Up pushe und seinen Podcast verfolge, habe ich nie gefragt, wie es damit läuft. Als würde das nicht reichen, habe ich mich nun auch noch in Bezug auf Ava wie ein notgeiler, aber unsicherer Idiot benommen. Warum war ich auch der Meinung, dass ein "Hey?" nach meiner dummen SMS eine gute Nachricht sei? Bereits drei Sekunden später habe ich es bereut.

Angekommen in dem Anwesen meiner Familie in den Hills von San Albay kam mir direkt Pepe, unser Hund, entgegen gesprungen. Immerhin einer, der sich freut, mich zu sehen. 

»Hey, du bist sicher Rafael!«, kam ein vielleicht 18-jähriger junger Mann auf mich zu. »Ja, und du bist?«, gab ich knapp zurück. Doch scheinbar schien ihn meine eher kurzangebundene Art nicht abzuschrecken. »Oh, ich dachte, dass dir das Marina und Noemi schon erzählt hätten. Ich bin Paul, Noemis Freund und ich wollte gerade mit Pepe Gassi gehen.«, sagte er selbstsicher. 

Noemis W-A-S?! Mein Körper spannte sich an und ich spürte, wie lauter unangenehme Gefühle in mir hochkamen. Sollte er es wagen, meine kleine Schwester nur einmal falsch anzufassen oder zu verletzten, wird er sich wünschen nie geboren zu sein. Auch, wenn ich in den letzten Monaten weniger zuhause war, reichte ein Blick auf Noemis Instagramprofil, um mitzubekommen, wie beliebt Noemi war - und wie viele Typen auf sie geiern. Immer wieder verglichen sie Leute mit Madison Beer oder Megan Fox. Es war kein Geheimnis, dass unsere Familie attraktiv war - dennoch wurde mir kotzübel bei dem Gedanken, dass sich irgendwer an meiner kleinen Schwester aufgeilen könnte.

Ich verdrängte den Gedanken und starrte Paul an. Tatsächlich war er nur ein kleines bisschen kleiner als ich. »Ist alles okay?«, fragte er. Vermutlich wirkte ich wie ein Creep.  »Alles gut.« Er zuckte nur noch mit den Schultern und kehrte mir den Rücken.

Warum hat mir eigentlich niemand davon erzählt? Und wieso darf er mit unserem Hund Gassi gehen?

»Noemi! Seit wann hast du einen Freund?«, rief ich während ich unser Wohnzimmer betrat. »Dir auch einen schönen Tag, Bruderherz«, gab Noemi, welche ihren Blick nicht von ihrem iPhone nahm, kühl zurück. Meine Mutter, welche ebenfalls im Wohnzimmer saß, lachte nur. Was sollte das?

»Setz dich doch zu uns, Rafi«, sagte meiner Schwester genervt. Wie ich es hasste, wenn man mich Rafi nennt. »Hättest du dich einmal öfter hier blicken lassen oder zumindest auf meine SMS geantwortet, dann wüsstest du, dass Paul mein Freund ist«, erklärte Noemi sichtlich enttäuscht, »und spare es dir, Vorträge über Typen und Beziehungen zu halten. Paul ist toll und tut mir gut, gerade zur Zeit.«. Wie oft soll ich mir heute noch anhören, dass ich mir zu wenig Zeit für alle genommen habe? So langsam habe ich es ja verstanden. Nur versteht mich keiner - vergessen denn alle, wie viel ich arbeite und wer ich bin?

Noch immer spürte ich die vergangene Nacht in meinen Knochen. Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut und wollte nur noch duschen und dann eine Runde schlafen, doch ich wusste, dass ich mir in erster Linie ein wenig Zeit für Noemi nehmen sollte. »Hey, pass auf. Ich spring schnell unter die Dusche, dann komm ich zu dir, okay?«.  »Mach das, du stinkst.«, erwiderte Noemi noch immer ohne mich anzusehen.

Nachdem ich mich frisch geduscht zu Noemi auf die Couch legte, erzählte sie mir fast 30 Minuten alles über Paul, was mich zwar wirklich freute, da ich kurzzeitig Angst hatte, dass sie mir nicht mehr so vertrauen würde wie früher. Doch andererseits war es ein komisches Gefühl zu wissen, dass Noemi nun einen Freund hatte. Schließlich ist sie ja meine kleine Schwester, die ich beschützen muss. Gut, sie ist 18 Jahre alt und in der High School, doch ich will einfach nicht daran denken, was passieren würde, wenn man sie verletzt. Noch bevor ich meine Bedenken äußern konnte, kam Paul bester Laune zu uns ins Wohnzimmer.

»Bleibst du zum Abendessen?«, rief Marina, welche an der Schwelle zum Wohnzimmer stand. Es dauerte, eh ich verstand, dass diese Frage nicht an Paul - dem eigentlichen Gast - gerichtet war, sondern an mich. »Ja, klar!«, gab ich zurück. »Nun ja, so klar ist das nicht«, antwortete meine Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen und gekünsteltem Lachen.

Sogar während des Abendessens folgten immer wieder bissige Bemerkungen meiner Mutter und Schwester. So funktionierten die Frauen meiner Familie; man zeigt erst die kalte Schulter, dann bringt man regelmäßig bissige oder trockene Kommentare über die Lippen um dem anderen ein schlechtes Gewissen einzureden. Ich verstand es ja, doch kann man sowas nicht irgendwann mal abschließen? Lediglich Paul verhielt sich neutral. Vielleicht ist er ja doch nicht so verkehrt.

Dabei interessiert es mich normalerweise nicht, was andere von mir halten - entweder man liebt und vergöttert mich oder man hasst mich halt. Ironischerweise bewundern mich die Leute, die mich hassen, letzten Endes am allermeisten.

Doch wenn es um Menschen geht, die ich liebe, kann selbst ich nicht gleichgültig sein. Die Tatsache, dass ich meine Mutter, meine Schwester und Jack, der wie ein Bruder ist, so verletzt und enttäuscht habe, tat weh. Mehr als ich mir eingestehen wollte. Ich habe versucht, dass alles mit meiner Karriere zu entschuldigen, doch es war falsch, das wusste ich. Nicht mal in den letzten Tagen war ich für meine Mum oder meine Schwester da. Seit acht Tagen ist mein Vater nun verschwunden. Keiner spricht es aus, doch wir alle wissen, dass es um Leben und Tod geht. Egal, wie gut wir alle versuchten, unsere Sorgen und Ängste zu verbergen, so verrieten uns am Ende doch unsere Augen.

Nach der köstlichen Lasagne meiner Mutter zogen sich Paul und Noemi zurück. Auch meine Mutter erwartete Besuch von zwei Freundinnen. Nach den Ereignissen, Problemen und der durchzechten Nacht war auch ich froh, mich endlich in meinem Teil des Anwesens zurückzuziehen und entspannen zu können.

Unsere Villa hatte die Form eines Ls und war eindeutig zu groß für vier Menschen. Doch wenn deine Eltern Köpfe der Mafia und Immobilienmogule sind, muss man zeigen, was man hat, wer man ist und wie viel man besitzt.

Es war schon etwas her, dass ich in meiner Hauptwohnung gewesen bin. Um ständig erreichbar zu sein und alle Geschäfte zu koordinieren, habe ich in den letzten Monaten immer öfter in einer Suite meines Hotels gewohnt. Dicht gefolgt von anderen Hotelzimmern auf der ganzen Welt, da ich beruflich ständig unterwegs war.

Ich dachte immer, dass ich dieses Jetset-Leben lieben würde, doch manchmal sehne ich mich nach Konstanz, nach dem Gefühl anzukommen. Doch schnell verwarf ich diesen Gedanken. Ich lebe meinen Traum! Und wer mit 25 meint angekommen zu sein, hat verloren. Es geht immer mehr; mehr Geld, mehr Reichtum, mehr Luxus, mehr Erfolg.

Doch so sehr ich mich auch darauf konzentrierte, positiv zu denken, mich über meinen Erfolg zu freuen, desto stärker wurde das Gefühl der Einsamkeit. In den fast 200m² meiner Luxuswohnung fühlte ich mich plötzlich wie ein Fremder.

Hallo❤️

Rafael ist wirklich kein einfacher Mensch! Wie seht ihr das? Ist er echt so ein Arschloch? 🤔 Oder steckt vielleicht mehr dahinter? 😏

Bleibt alle gesund!

Bis zum nächsten Kapitel meine Lieben💗

Lost & found - The Way we goWo Geschichten leben. Entdecke jetzt