ZWEIUNDZWANZIG

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»Morgen, kommst du zu uns rüber? Es gibt Pancakes, Obstsalat, Croissants, frisch gepressten Orangensaft...« Es dauerte einen Moment bis ich Noemi wahrnahm. Bei dem Gedanken an den gestrigen Tag verging mir jeder Hunger, doch das gemeinsame Frühstück am Wochenende gehörte eigentlich immer für uns dazu - auch, wenn ich das in den letzten Jahren immer häufiger vernachlässigt habe. »Ich komm gleich, okay?« Sie nickte und schloss die Tür hinter sich. Beim Blick in den großen Spiegel meines Badezimmers erschrak ich für einen Moment. Erst jetzt realisierte ich die vielen Kratzer und Blutergüsse auf meinem Körper, welche sich jedoch glücklicherweise überwiegend auf meinen Oberkörper konzentrierten. Kaum auszudenken, was meine Geschäftspartner, Angestellten und Fans denken würden, wären mein Gesicht oder meine Arme verletzt. Ich muss wirklich aufpassen.

Obwohl ich mehr als üblich geschlafen habe, fühlte ich mich wie erschlagen. Die Woche hatte definitiv ihre Spuren verlassen. Doch mir blieb keine andere Wahl als weiterhin durchzuziehen. Auch, wenn mir mittlerweile alle Seiten dazu geraten haben, kürzer zu treten. Doch wie? Mein Vater wird noch immer festgehalten und ich bin wieder Teil der Mafia. Das Hotel, das Casino und meine neue Bar beanspruchen viel Zeit und mein Auftreten in den Medien lässt sich auch nur schwer reduzieren. 

Ich schlüpfte in meine graue Jogginghose und zog ein weiß T-Shirt über, auch meine Haare stylte ich nicht. Doch in diesem Moment war es mir egal. Entlang des viel zu langen Flures hörte ich meinen Magen knurren. Wann hatte ich das letzte Mal richtig gegessen? Gestern früh? Vorgestern? 

»Guten Morgen, mein Schatz«, begrüßte mich meine Mutter als sei alles normal. Auch Noemi saß fröhlich neben Paul. Es war nichts neues, dass meine Mutter sich nichts anmerken ließ. Doch Noemi zeigte für gewöhnlich immer, wie sie sich fühlte. Wusste Noemi wirklich nicht, was die letzten Tage geschehen ist oder wird sie immer mehr wie der Rest der Familie und setzt ein Pokerface auf? 

»Und meine Süßen, habt ihr was Schönes für heute geplant?«, fragte meine Mutter in die Runde. »Ach, wir müssen noch ein wenig für die Schule lernen. Ansonsten werden wir wahrscheinlich nur Netflix gucken, oder mein Schatz?«, erklärte Paul, während er verliebt zu meiner Schwester sah. Auch, wenn er einen vernünftigen Eindruck hinterließ und meine Mutter in den höchsten Tönen von ihm schwärmte, würde ich auch in Zukunft immer ein Auge auf ihn werfen. Schließlich wusste ich am besten, wie Jungs tickten. Außerdem war mir klar, was er mit Filme gucken wirklich meinte. Als die beiden das Esszimmer verließen, trat meine Mutter an mich heran. »Rafael?« »Ja?« »Es tut mir leid, dass du wieder mittendrin steckst. Doch ich habe gute Nachrichten: Viktor ist gerade dabei mit dem Kopf der Martinez zu verhandeln, wir haben noch einige Druckmittel gefunden. Ich schätze, dass wir deinen Dad bald wiedersehen werden.« Sie versuchte selbstsicher und ruhig zu klingen, doch irgendwas sagte mir, dass das nicht der Fall war. Ihre Augen waren leer und ihr Lächeln aufgesetzt. Wusste sie etwas, was ich nicht wusste?

Nach meinem Training fuhr ich in mein Hotel, um das Wichtigste abzuklären und alles zu kontrollieren. Da ich einmal in der Innenstadt war, entschloss ich mich dafür, Jack zu fragen, ob er Zeit hätte. Keine halbe Stunde später saß ich mit ihm an der Strandpromenade. Nachdem ich ihm von der letzten Woche erzählte, blickte er mich verunsichert an. »Wie lange willst du das durchziehen? Bro, nichts für ungut, aber du siehst aus wie Scheiße und wir haben das doch schon so oft erlebt.« »Erst einmal seh ich nie wie Scheiße aus und an deiner Stelle wäre ich ganz leise.« Wir beide mussten lachen, auch wenn ich wusste, dass er recht hatte. »Ich weiß es nicht. Solange ich muss, schätz ich.« Er blickte wehmütig drein. »Du bist kein 16 Jähriger mehr, der seine Blutergüsse auf eine Schlägerei auf einer Party schieben kann. Dir folgen zwei Millionen Menschen auf Instagram, du hälst große Reden in teuren Hallen und bist ein Geschäftsmann, vergiss das nicht.«, nach einer kurzen Pause fuhr er fort, »Das ist ein Spiel mit dem Feuer und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es anfängt zu brennen.« Ein kalter Schauer fuhr meinen Rücken runter. »Was, wenn mein Vater es nicht schafft?«, sprudelte es aus mir heraus. Ohne drüber Nachzudenken war es ausgesprochen. Seit der Entführung habe ich diese Frage verdrängt und daran geglaubt, dass mein Vater es zweifelsfrei überstehen würde, doch was, wenn dem nicht so ist? Die Martinez waren schon immer kaltblütige Mörder, warum sollten sie meinen Vater am Leben lassen? »Hey, ganz ruhig. Hätten sie deinen Vater umbringen wollen, hätten sie es doch schon längst getan. Auch mir sind die Mafiagesetze noch bekannt und glaub mir, der Tod deines Vaters wäre das Ende der Martinez.« »Ich hoffe, dass du recht behältst.« »Werde ich. Sag mal, was ist eigentlich mit Juan?« Juan. Vor fast zwei Jahren habe ich das letzte Mal mit ihm gesprochen. »Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht so genau. Nach dem Streit hatte er jede Kontaktmöglichkeit blockiert.« Ich spürte den Knoten in meinem Hals. All die Dinge, die ich sonst verdrängt habe, kommen nach und nach hoch. »Ich kann dir aber sagen, dass es ihm gut geht. Auch, wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass du ihm fehlst. Gib' dir einen Ruck und melde dich bei ihm. Wenn ich dir verzeihen konnte, wird er es auch. Ich habe seine aktuelle Nummer, schreib ihm.« Ich hatte keinen Schimmer, was Jack schon wieder im Schilde führte, doch sein Blick war voller Hoffnung. »Er wäre mehrmals fast für dich gestorben, als ob er nach zwei Jahren noch immer eingeschnappt wäre, dass du was mit irgendeinem Weib gehabt hattest.« Wäre es nur irgendeine Frau gewesen. Leider war es Ashley und Ashley war seine Freundin. »Übrigens wüsste ich da noch jemanden, der sich eventuell über eine Nachricht von dir freuen könnte.« Er lachte schelmisch. »Du musst mir nichts vormachen, du magst die Kleine. Erklär ihr, wer du bist und zeig ihr, dass du mehr als dieses Arschloch sein kannst.«

Zuhause angekommen gingen mir die Worte von Jack nicht aus dem Kopf. Sollte ich Ava wirklich nochmal schreiben? Einerseits wollte ich es unbedingt, doch andererseits fühlte ich mich schwach und armselig und kam mir lächerlich vor, einer 19-jährigen, die meine letzten zwei Nachrichten gelesen hat, hinterher zu laufen. Doch vielleicht war es endlich Zeit, meinen Stolz zu überwinden. Und vielleicht war es nun auch an der Zeit, mich bei Juan zu melden.

Lost & found - The Way we goWo Geschichten leben. Entdecke jetzt