ZWÖLF

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Ava P.o.v.

Ein paar Stunden zuvor

Luke, Aubrey und ich saßen noch eine ganze Weile auf der Bank außerhalb der Turnhalle. Trotz der Schwere des Gesprächsthemas, gelang es den beiden mich zum lachen zu bringen. Das ich mich Luke und Aubrey, welche ich gerade einmal eine Woche kannte, anvertraute, schockierte mich selbst. Nicht, dass ich ihnen nicht vertrauen würde - wir verbrachten viel Zeit miteinander und ich fühlte mich wohl bei ihnen, außerdem wusste ich instinktiv, dass ich ihnen vertrauen konnte. Doch sobald es um die dunkelsten Tage und Woche meines Lebens geht, verstumme ich normalerweise. Sogar mit meinen engsten Freunden konnte ich erst nach langer Zeit ein klein wenig über das Geschehene reden. Ich hatte schon immer unglaubliche Schwierigkeiten, über negative Gefühle wie Angst vor Verlusten und Trauer zu reden. Außerdem hasse ich es vor anderen Leuten zu weinen und mich derart verletzlich zu zeigen. Ich weiß selbst nicht genau, warum mir das so schwer fällt. Vermutlich, weil ich mich davor fürchte, dass mich die Leute danach nicht mehr als die junge, taffe und selbstbewusste Frau ansehen, für die ich normalerweise gehalten werde. 

Obwohl es mir dank den beiden schon bedeutend besser ging, kreisten meine Gedanken noch immer weiter. Wieso konnte Ryan vorzeitig entlassen werden? Wovon und wo wird er leben? Bei seinen Eltern wohl kaum - schließlich musste seine Mutter wegen ihm die Klinik wechseln und sein Vater das Amt des Bürgermeisters aufgeben. Dazu das Gerede in der Kleinstadt - seine Eltern haben wegen ihm viel verloren; Freunde, Geld, ihr Image als perfekte Familie; und waren von seinen Taten genauso schockiert wie der Rest der Stadt. Und warum um alles in der Welt hat er direkt mir geschrieben? Ich bin seit nicht mal zwei Wochen am anderen Ende des Landes - und habe mich gut gefühlt. War es naiv zu glauben, dass ich mich plötzlich besser fühlen würde, nur weil ich dieses Dreckskaff verlassen habe? Zumindest teilweise - denn so habe ich zumindest eine reale Chance, neu anzufangen.

 Man kann die Vergangenheit nicht vergessen, aber man kann lernen, nicht mehr in der Vergangenheit zu leben. 

Mit einem Schlag kamen mir die Worte meiner Mutter in den Sinn. Bereits mit 13 hatte ich das Talent, über alles stundenlang nachzudenken. Als ich von meiner ersten Periode überrascht wurde, hatte ich einen großen Fleck auf meiner hellblauen Jeans - und somit war auch der haben Schule bekannt, dass ich offiziell in die Pubertät gekommen war. Noch Monate später zerbrach ich mir darüber den Kopf. Als ich dann mit meiner Mutter in der Mall war und ich mich vehement dagegen wehrte eine Hose anzuprobieren, dessen Farbe nicht schwarz war, erklärte sie mir, dass sie so nie richtig glücklich werden würde, da ich noch immer in meiner Vergangenheit leben würde. Was sie damit meinte, habe ich jedoch erst ein paar Jahre später so wirklich begriffen.

 Wie würde sie sich gegenüber Ryan verhalten? Während mein Vater ein unglaublich sturer, nachtragender Mensch ist, war meine Mutter das komplette Gegenteil. Selbst an ihren schwersten Tagen war sie voller Liebe, Zuversicht und Optimismus. Ihr war bewusst, wie gut sie aussah und wie klug sie war. Dennoch war sie nie zu stolz, um anderen zu verzeihen oder sich zu entschuldigen. Sie liebte das Leben mit all seinen Facetten - und verzauberte mit ihrem großen Herzen fast jeden Menschen, den sie traf. Meine Mutter verstand es besser als die meisten Menschen zu leben. Sie verschwendete keine Energie daran, falsche Menschen beeindrucken zu wollen, nur um gemocht zu werden. Im Gegenteil, sie folgte immer ihrem Herzen und achtete nicht auf die Meinung von anderen. Materielle Dinge waren ihr eher gleichgültig, was für sie zählte, waren Dinge wie Aufrichtigkeit, Respekt, Liebe und ihr innerer Frieden. 

Von meinem inneren Frieden bin ich noch Meilen weit entfernt, aber das ist okay. Was Ryan angeht, kann ich im Moment eh nichts wirklich machen und muss mich jetzt auf die Fähigkeiten von Gabriella als Anwältin verlassen. Versuchen ruhig zu bleiben, darauf vertrauen, dass die Gerechtigkeit siegt. Doch wie wird das wirklich weitergehen? Wird mich Ryan in Ruhe lassen? Wer ist Rafael wirklich? Rafael. Nein, er war es nicht wert, dass ich daran noch einen Gedanken verschwende. Im Grunde kenne ich ihn kaum und dass er mich nicht weiter beachtet hat, sollte mich nicht weiter interessieren.

»Leute«, Aubrey riss ihre großen Augen auf, »da ist Zach«. Ich war durch mein Gedankenkarussell mal wieder so abgelenkt, dass ich gar nicht mitbekam, dass Zach nur etwa fünf Meter von uns entfernt war. In Anbetracht der Blicke, welche die anderen Gäste, die vor dem Eingang rauchten und in Gruppen standen, zu ihm warfen, waren sie aber genau so schockiert wie wir. Jeder kannte Zach. Sei es vom Campus, den Feiern, auf denen er wohl häufiger polarisiert, durch seine Auftritte als DJ, aus Instagram oder eben durch die Schlägerei.

In der Mensa und auf dem Campus hörte man zwar immer wieder Studenten spekulieren, dass es ihn brutal erwischt hätte und dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Angriff der Martinez gewesen sei. Richtig bestätigen konnte das keiner. Leute munkelten auch, dass er sogar in mafiöse Geschäfte verwickelt sei; doch ganz gleich was er gemacht hat und wer es letzten Endes war, der ihn so hart zugerichtet hat - diese Person war verdammt wütend und musste gefährlich sein. Seine Verletzungen sahen nämlich nicht nur nach den Folgen einer dämlichen Schlägerei im Suff aus, nein, er sah zerstört aus. Als hätte man ein Attentat speziell auf ihn verübt. Als wollte man ihn töten. Der Gedanke daran lies mir einen eiskalten Schauer über meinen Rücken laufen.


Lost & found - The Way we goWo Geschichten leben. Entdecke jetzt