»Aufwachen, Schlafmütze!« Luke stand mit seinem breiten Grinsen vor mir. Er ist wirklich der typische kalifornische Sunnyboy - groß, muskulös, leicht gebräunt, tiefblaue Augen, blondes Haar und ein zum dahinschmelzen schönes Lächeln. »Ja, ich komm ja schon.« Noch während ich das sagte, drehte ich mich um. Noch nie zuvor habe ich in so einem bequemen Bett gelegen, insbesondere wenn ich dieses mit dem alten, schmalen Bett mit der durchgelegenen Matratze im Wohnheim vergleiche. Wobei man die Wohnung von den beiden wohl kaum mit irgendeinem Studentenwohnheim- oder Wohnungen vergleichen könnte. Ich will gar nicht wissen, was eine so große Wohnung mit diesen Standards in Strandnähe wohl kostet.
»Okay, du willst es wohl nicht anders«, sagte Luke und schmiss sich auf mich um mich zu kitzeln. Keine gute Idee, ich bin super kitzelig und kann nicht garantieren, meine Mitmenschen nicht zu verletzten. »Hör auf!« »Gib' mir doch einen Grund dazu.« Luke lag direkt auf mir. Er blickte mir tief in die Augen und ich spürte, wie sich mein Körper anspannte. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. »Kommt ihr jetzt endlich?«, rief Aub aus Entfernung. »Na komm«, sagte Luke leise zu mir und nahm meine Hand.
Bereits auf dem Weg zur Küche und dem Essbereich duftete es herrlich nach frisch gekochtem Kaffee. Als ich sah, wie liebevoll der Esstisch gedeckt war, bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Oh Aub, du hättest doch ruhig was sagen können, dann hätte ich dir geholfen!« »Süße, gestern war ein ziemlich aufwühlender Tag und du hast so friedlich geschlafen. Außerdem wisst ihr doch, wie ich es liebe, Essen und Getränke zuzubereiten.« Aubrey mag durch ihren auffallenden, aber stets perfekten Stil und ihrer selbstbewussten Ausstrahlung und Art in den Augen mancher etwas eingebildet rüberkommen, doch sie trägt ihr Herz auf jeden Fall am rechten Fleck. Joel, der ebenfalls noch ziemlich müde war, gesellte sich zu uns. Nach dem gemütlichen Frühstück machten Luke und ich uns auf, schließlich müssen wir alle noch genug für die Uni erledigen und nacharbeiten.
Obwohl es Sonntagvormittag war, war die Straßenbahn wie so oft in den letzten Tagen überfüllt. Luke stand so dicht vor mir, dass mein Kopf an seiner Brust lag. Die Menschen waren genervt, drängten sich durch Massen und schubsten, sobald jemand aussteigen wollte. Eigentlich eine verdammt unangenehme Atmosphäre, doch auf eine merkwürdige Art und Weise fühlte ich mich durch Luke wohl. Seine Arme lagen auf meinen Schultern und immer wieder sah er verstohlen zu mir.
»Aussteigen«, erinnerte mich Luke. Noch knapp 100 Meter gingen wir die Straße entlang, bis Luke erklärte, dass er nach links müsse. »Ava, wir kennen uns erst seit einer Woche, aber du solltest wissen, dass du mich jederzeit anrufen kannst, wenn etwas los ist oder du reden möchtest, okay? Auch nochmal danke, dass du uns das anvertraust hast. Du bist die stärkste Person, die ich bisher getroffen habe.«
»Ich danke euch«, mehr kam ich in diesem Moment nicht raus, auch wenn ich ihm gerne noch und du kannst jederzeit zu mir kommen gesagt hätte. Als ich Luke vor knapp einer Woche zum ersten Mal sah, hätte ich nie gedacht, dass ausgerechnet er die Person sein würde, der ich das alles anvertrauen würde. Es war Joel, der mich ihn vorgestellt hat und die Idee hatte, dass Luke und ich ein Beerpongteam bilden sollten. Luke ist bereits im dritten Semester und erinnert mich an die Typen der Highschool, die immer beliebt waren und alles machen konnten ohne Ärger zu bekommen. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass es ihm bewusst ist, dass er mit seiner charmanten, humorvollen Art und seinem guten Aussehen fast überall gut ankommt.
Angekommen in meinem Wohnheimzimmer sah ich zum zweiten Mal meine Mitbewohnerin. Doch sie reagierte weder auf meine Begrüßung noch auf die Frage, wie es ihr denn geht. Was für eine sympathische Person. Nicht. Da ich mit Unikram beschäftigt war, blieb ich in dem Zimmer. Doch dadurch, dass wir kein Wort miteinander wechselten, war die Atmosphäre verdammt komisch. »Hey, wurde denn schon der Schimmel in der Ecke behoben?« Nach einem kurzen Stöhnen folgte nur ein »Montag«. Hoffentlich finde ich bald eine andere Bleibe.
Nach der Lernerei beschloss ich mir einen Snack und ein YouTube-Video zu gönnen. Um mich nicht von meinem Smartphone ablenken zu lassen, hatte ich den Flugmodus aktiviert. Einige Sekunden später warf ich einen Blick auf die Nachrichten, die ich in den letzten Stunden erhalten habe. Ganz oben stand der Name Rafael. Schon wieder.
Rafael, 16:45 • Hey?
Ich weiß, dass es nicht die feine englische Art ist, Leuten nicht zu antworten. Doch ich verstand sein Verhalten nicht. Wieso hat er mir nicht erzählt, was er wirklich macht? Wieso schreibt er mir mitten in der Nacht, aber sieht während der Party nicht einmal nach mir? Sollte ich ihm eventuell doch schreiben? Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, rief mich Gabrielle, Charlottes Mutter und meine Anwältin, an: »Hallo Liebes, ich hoffe es geht dir trotz der Nachricht einigermaßen gut! Hast du dich denn schon in San Albay eingelebt?« »Hi Gab, es war ein Schock, doch mir geht's schon wieder besser! San Albay gefällt mir bisher richtig gut.« »Das freut mich. Kommen wir zur der Sache mit Ryan. Es gibt einige Gründe, warum er vorzeitig entlassen wurde, doch der Hauptgrund dürfte folgender sein: Alicia hat ihre Aussage, dass sie von ihm unter Drogen gesetzt wurde, zurückgenommen und auch gesagt, dass es doch einvernehmlich war und die beiden schon ein paar Mal was miteinander gehabt hätten und sie einen Film von sich drehen wollten.« Mir verschlug diese Nachricht die Sprache. Ryan wurde nie für versuchte Vergewaltigungen oder sexuelle Übergriffe angeklagt, da schlichtweg die Beweise fehlten. Bei mir würde ich das auch nicht als eine ansehen, das wäre respektlos all denen gegenüber, denen das widerfahren ist - auch wenn ich mich danach dreckig und scheußlich fühlte. Er hat jedoch die Situation meines Rausches ausgenutzt und es gefilmt. Letzten Endes wurde er genau für das, das Vertreiben und den Besitz von pornografischen Materialien minderjähriger, angeklagt.
Doch Alicia, die nahezu regungslos da lag, hatte es am schlimmsten getroffen. Jeder konnte sehen, dass das kein einvernehmlicher Sex war. Das ausgerechnet sie ihre Anklage zurückzog und ihre Aussage änderte, hätte ich nie erwartet. »Es tut mir wirklich Leid, Ava. Ich werde herausfinden, warum sie das getan hat. Doch eine gute Nachricht habe ich dennoch: ich habe Ryan vorhin in dem kleinen Haus seiner Oma besucht und er war dann ganz kleinlaut. Als ich ihm dann noch sagte, was ihn mit seinen Vorstrafen bei Erpressung drohen würde, ist er kreidebleich geworden. Ryan Stewart ist längst nicht mehr der, der er war.« »Danke Gab, danke!« Es war nur schwer vorstellbar, dass Ryan nicht mehr das ekelhafte, selbstverliebte und perverse Arschloch sein soll - aber vielleicht hat ihn die Zeit im Knast, der Fall seines sozioökonmischen Status und der Verlust von nahezu allen Freunden und seinen Eltern tatsächlich ein wenig verändert. Es ist einfach, eine Person, die am anderen Ende des Landes ist und man so verletzt hat, per SMS mittels einer Drohung einzuschüchtern. Doch ich vertraute Gabrielle, schließlich kennt sie Ryan auch schon seitdem er ein kleiner Junge war. Er hat kein Recht und keine Macht mehr, mich und mein Leben zu kontrollieren. Er gehört zu einem Teil meiner Vergangenheit dazu, doch ich weiß, dass mein Leben noch so viel mehr bereithalten wird.
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Lost & found - The Way we go
General FictionZwei Todesfälle, die alles verändern. Ein Video, das Leben zerstört. Geheimnisse, die gleich mehrere Leben gefährden. Alles könnte perfekt sein. Doch dann schlug das Schicksal bei Ava mehrfach mit voller Gewalt ein. Um endlich neu anzufangen, zieht...