SIEBEN

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Rafael P.o.V.

Noch immer war ich in einer Art Schockstarre. Sollte Viktor wirklich Recht haben? Hatte mich mein Vater die ganze Zeit über belogen? Mein Unterbewusstsein belächelte mich Natürlich du Idiot, dein Vater ist immer noch Edoardo Caruso, der Boss der Unterwelt. Ich ärgerte mich über meine Naivität. Als erfolgreicher Geschäftsmann, der immer das bekommt, was er will und alles im Griff hat, war ich nicht clever genug, um zu wissen, dass mein Vater nach wie vor ein Mafioso war? Ein Witz. Die Wut kochte in mir. Nicht nur, weil er scheinbar nie aufgehört hatte für die Mafia zu arbeiten, sondern vielmehr weil er sein Versprechen gebrochen hat. Der Mann, der mir seitdem ich ein kleines Kind gewesen bin, erzählte, dass Loyalität, Ehrlichkeit und Vertrauen neben der Familie die wichtigsten Dinge im Leben seien.

»Emma, hole Marina auf mein Zimmer. Sofort.« Emma nickte, sagte jedoch nichts weiter. Knapp fünf Minuten später stand meine Mutter an der Türschwelle. Sie trug ein purpurfarbenes Etuikleid und verzog keine Miene.

»Rafael«

»Hast du mich die letzten Jahre angelogen?« Meine Mutter riss ihre Augen auf und senkte ihren Blick.

»Was meinst du?«

»Du weißt genau, was ich meine. Dad hat nie aufgehört für die Mafia zu arbeiten - und du folglich auch nicht.« Viktor riet mir, meine Mutter nicht einzuweihen, um mich noch mehr unter Druck zu setzen. Ich kenne seine Spielchen. Doch sollte mein Vater wirklich noch Teil der Mafia sein, dann war sie es automatisch auch.

»Diese Sache ist so viel komplizierter, mein Schatz. Es war alles zu eurem Schutz und auch für deinen Erfolg!«

Damit war das alles bestätigt. Tief im Inneren habe ich gehofft, dass sie es beneinen würde. Natürlich war mir aber auch klar, dass Viktor leider die Wahrheit gesagt hat. Ich spürte, wie mein Puls anstieg und sich mein gesamter Körper erhitzte. Ich fühlte mich hintergangen; als hätte man mir mehrere Messer in meinen Rücken gejagt. Die ganzen letzten Jahre waren eine Lüge. Eine große, gottverdammte Lüge. 

Marina ging auf mich zu: »Bitte sag doch was!«.

Ich schluckte und versuchte mich zusammenzureißen. Doch in dieser Sekunde konnte ich meine Wut nicht länger verstecken. Ich entfernte mich von mir und schlug auf eine Tischplatte. 

»Du willst mich verarschen, oder? Die Schweine von den Martinez haben euch fast drei verfickte Tage in einem kleinen Raum festgehalten! Dich und deine Tochter, die damals gerade einmal neun Jahre alt war! Wer hat euch gerettet? Juan und ich! Die Narbe der Schusswunde an meinem Oberschenkel erinnert mich jeden einzelnen Tag daran! Dad hat danach geschworen, endlich mit dem ganzen Scheiß aufzuhören. Ach ja, und du hast bereits zu meinem 15. Geburtstag davon gesprochen, dass du dir wünschst, dass wir eines Tages eine normale Familie sein würden.« Ich wollte sie nicht anschreien, doch meine Gefühle gingen komplett mit mir durch.

»Rafa«, sie schluchzte, »ich weiß, dass du unglaublich viel durchmachen musstest. Doch bitte vertrau mir, wenn ich dir sage, dass dein Vater und ich alles dafür getan haben, die Mafia, den Drogenhandel, all die dubiosen Geschäfte hinter uns zu lassen. Doch es gab zwei große Probleme: zum Einen war dein Vater der Kopf der Mafia und sein Wort war Gesetz. Auf legale Weise gehörte ihm halb San Albay und Umgebung, doch die Unterwelt mit all ihren krummen Geschäften gehörte ihm ganz allein - zumindest bis zu dem Streit mit den Martinez. Zweitens wäre da noch das Mafiagesetz: Wer einmal Mitglied der Mafia ist, bleibt es bis zum Tode. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass niemand jemals die Mafia lebendig oder an einem Stück verlässt.«

»Ja Mum, ich kenn die tollen Gesetze der Mafia, glaub mir. Doch weißt du, was ich auch kenne? Menschenrechte. Die Gesetze unseres Landes. Ich kann es einfach nicht glauben, dass du das zugelassen hast! Wie war das mit Stolz, Versprechen und Familie steht über alles? Verdammt, er wurde entführt. Wer weiß, wie lange er durchhält. Was ist, wenn als Nächstes Noemi verletzt wird? Oder du?«

Sie senkte ihren Blick. Wie immer, wenn sie nervös war, spielte sie mit ihrem Schmuck an ihrem Handgelenk.

»Bitte sprich nicht so über deinen Vater. Er ist nach wie vor ein stolzer Mann und hält sein Wort. Genau deswegen hat er", sie atmete tief durch ohne mich anzusehen, "...haben wir so gehandelt wie wir es getan haben. Um immer weniger mit all den Machenschaften zu tun zu haben, einigten sich Viktor und dein Vater darauf, dass Viktor der neue Kopf der Collucis sein würde. Da er der Bruder des Chefs ist, wurde es angenommen und so war dein Vater offiziell noch Mitglied, aber inoffiziell hatte er mit den wenigsten illegalen Sachen noch was zu tun.«

»Mum, ich liebe dich. Ich liebe Noemi. Auch Dad liebe ich auf eine verkorkste Art und Weise. Ich werde das Geschäft mit Viktor eingehen, um ihn zu retten. Doch ich werde nie zu einem Mafioso und auch nie so sein wie ihr. Du kennst meine Einstellung, meine Prinzipien. Ich weiß auch nicht, wann ich euch diesen Vertrauensbruch verzeihen kann.«

Meine Mutter, die fast eineinhalb Köpfe kleiner ist als ich, lag in meinen Armen. Tief im Inneren wusste ich, dass sie nie die eiskalte Mafiabraut war, geschweige denn sein wollte. Sie ist eine Vollblutitalienerin mit Stolz, Charme und vor allem mit einem Herz aus Gold. Seit gut 27 Jahren lebt sie nun schon in den Staaten, doch sie war immer noch viel mehr Italienerin als Amerikanerin.

»Ich werde jetzt gehen, wir sprechen uns morgen.« Es wäre gelogen zu sagen, dass ich nicht mehr wütend sei. Eher muss ich mich beherrschen, nicht gegen noch irgendwas zu treten oder zu schlagen. Im Grunde hilft jetzt nur noch das Gym oder jemanden zu ficken. Aber vielleicht hilft für's Erste frische Luft.

Links vom Maribelle lag direkt die Strandpromenade. Eigentlich optimal für einen Walk, doch mir war nicht danach, glückliche Paare oder Familien zu sehen, die dort entspannt spazierten. Also entschloss ich mich für die Straßenseite. Während ich noch ein paar E-Mails beantwortete, spürte ich plötzlich die Schulter und den Busen einer anderen Person. Kommt wohl davon, wenn man auf sein Smartphone starrt und nicht nach vorn schaut. Eine junge Frau sah genervt zu mir. Ich entschuldigte mich, doch als ich sie ansah, erkannte ich das Gesicht sofort. Es war eindeutig die junge Frau aus dem Wohnheim. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man eine fremde Person in einer Großstadt gleich zweimal trifft? Ob sie mich auch erkannt hat?

Lost & found - The Way we goWo Geschichten leben. Entdecke jetzt