Mein Herz pausierte für eine Sekunde, mein Atem stockte. Es hatte keinen Sinn, ihm etwas vorzumachen. Ehe ich etwas sagen konnte, legte er seine Hand auf meine Schulter und sicherte mir zu, dass ich über nichts reden muss, wenn ich es nicht möchte - ich mich aber jederzeit bei ihm melden könnte. Von Außen wirkt Luke wie der beliebte Footballspieler, dessen Leben ausschließlich aus tollen Momenten besteht. Eine Person, geboren auf der Sonnenseite des Lebens. Gewissermaßen stimmte das auch. Luke spielte, wie sich bereits am ersten Tag herausgestellt hat, nicht nur leidenschaftlich gern Football, sondern war auch Kapitän der Footballmannschaft der Universität. Soweit ich das mitbekommen, gibt es niemanden, der ihn nicht mag. Kein Wunder, er ist wirklich toll. Luke strahlt eine Leichtigkeit aus, von der ich nur träumen könnte. Doch hinter der Fassade des stets gut gelaunten, 1.90m großen Footballspieler, der so ziemlich jede Frau abbekommt, die er auch will und immer einen Spruch auf den Lippen hat, steckt mehr. So viel mehr.
Auch, wenn mich das spontane Treffen mit Rafael tatsächlich abgelenkt hat, konnte ich die SMS - und dessen mögliche Konsequenzen - nicht vergessen. Das Problem am Verdrängen ist, dass es dich früher oder später mit doppeltem Gewicht einholen wird. Mit einem Schlag spürte ich das Verlangen danach mich zu öffnen.
»Ja, du hast recht. Es war keine Nachricht von einem Ex.« »Was auch kommen wird, ich verspreche dir zu helfen, okay?« Ich kannte Luke gerade einmal eine Woche, doch ich spürte, dass ich ihm vertrauen könnte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass uns etwas verbindet. »Okay, aber bitte verurteile mich nicht...« »Für was verurteilen?«, erschallte eine helle Stimme. Plötzlich stand Aubrey, welche wie immer perfekt gestylt war, vor uns. »Ich bin nicht wegen einer SMS eines Ex-Freundes gegangen, sondern ehrlich gesagt ist das alles ein wenig komplizierter.« Ich spürte, wie Tränen in meine Augen schossen. Sie nahm links von mir Platz und lag ihren Arm um mich. »Süße, du hast vorgestern zwei Stunden meine Haare gehalten und dich so lieb um mich gekümmert, als ich komplett besoffen war. Außerdem habe ich dir schon einige peinliche Stories erzählt - es wird dich keiner verurteilen.« Luke stimmte ihr zu.
Doch ihre peinlichen Geschichten waren lustig, Erinnerungen an die Middle- und Highschool, über die man rückblickend nur lachen kann. Keine Vollkatastrophen, die Familien und Menschen zerbrechen ließ.
»Es gibt da ein paar Sachen, die ihr noch nicht über mich wisst. « Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog und meine Atmung schwerer wurde. »Vor 13 Monaten hat sich mein Leben komplett geändert. Es war Anfang August, die Schule hat gerade begonnen. Der Tag war anfangs ein Tag wie jeder andere. Doch irgendwann in der vierten Stunde kamen der Schulleiter und die Schulpsychologin Mrs. Smith in das Klassenzimmer und baten mich, mitzukommen. Ich weiß noch wie Derek, ein guter Freund von mir, aus Spaß fragte, was ich denn verbrochen hätte. Ihr solltet wissen, dass unsere Lehrer ein recht offenes und gutes Verhältnis zu unserem Jahrgang hatten. Umso komischer war es, dass sie auf dem Weg in das Sekretariat kaum etwas zu mir sagten und meine Frage, was denn los sei, ignorierten. Der Gang ins Büro fühlte sich so unendlich lang an und ich weiß noch, wie mein Herz vor Aufregung pochte. Ich hatte Angst. Instinktiv ahnte ich, dass etwas furchtbares passiert sein muss. Doch was mich dann erwartete, war schlimmer als mein grausamster Albtraum.«
Mein Herz pochte von Sekunde zu Sekunde schneller, meine Hände wurden schwitzig und meine Stimme brach. Beide nahmen mich in ihre Arme und sahen mich beinah verängstigt an.
»Als... als ich dieses betrat, sahen mich zwei Polizisten und eine andere Frau, wie sich rausstellte, eine Psychologin und Seelsorgerin, mitleidig an. Sie sagten mir, dass meine Mutter und mein kleiner Bruder bei einem schweren Unfall verunglückt seien.« Beide sahen mich schockiert an und schienen mit ihren Tränen zu kämpfen. Sowohl Lukes als auch Aubreys Stimme zitterten als sie mir ihr Mitleid aussprachen. »Das ist so schrecklich, Ava. Wir sind immer für dich da«, sagte Aubrey, »wenn wir irgendwas tun können, sag uns bitte Bescheid.«
»Danke, das ist sehr lieb von euch. Mittlerweile geht es mir schon besser, auch wenn dieser Schmerz wohl nie vollständig vergehen wird.« Ich schluckte. Es gab keinen Tag, an denen ich nicht daran dachte. Ich liebte und hasste das Leben gleichermaßen. »Die Zeit danach war ziemlich beschissen. Wisst ihr, dieser fünfte August hat mein Leben in ein davor und ein danach geteilt. Mein Vater kam noch weniger klar und war dann ziemlich lange in Behandlung. Mir ging es natürlich auch nicht gut, aber ich wollte mich halt irgendwie durch das Abschlussjahr boxen. Auch wenn meine Freunde zuhause großartig sind, konnte ich lange Zeit nicht darüber reden. Stattdessen habe ich mir so ziemlich jedes Wochenende die Kante gegeben. Meine erste große Liebe hat mich vier Wochen zuvor verlassen und direkt eine vermeintlich gute Freundin gevögelt. Ich war auf so vielen Ebenen verletzt. Meine Familie war auch keine wirkliche Unterstützung, abgesehen von meiner Grandma. Manchmal war ich traurig, manchmal wütend. Doch die meiste Zeit hab ich mich leer gefühlt, wie betäubt. Habe ich dann doch mal was empfunden, habe ich es mit Tequila verbrannt.« Luke und Aubrey ringten nach Luft, Aubreys Make-Up war nun genauso verschmiert wie meins. Ich wollte kein Mitleid erregen und die Stimmung der beiden versauen, doch das ist eben ein Teil meines Lebens, ein Teil von mir. »Wie kann es sein, dass ein so lieber Mensch wie du so viel Scheiße durchmachen muss? Das ist doch nicht fair«, sagte Luke nach einigen Momenten der Stille. Ich fragte mich das auch. Genauso wie ich mich immer und immer wieder fragte, warum nicht ich, sondern mein süßer Bruder und meine Mum in dem Auto saßen. Ich wünsche niemanden etwas schlechtes, aber warum so oft guten Menschen, die keiner Seele je etwas angetan haben, sowas passiert, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.
»Ich weiß es nicht.« »Es tut mir einfach so krass leid, Ava.« Für einen Moment lag ich in den Armen der Beiden. Wir alle waren vollkommen aufgelöst, doch die Nähe der Beiden tat mir gut. Luke räusperte sich und brach vorsichtig das Schweigen. »Doch was ist vorhin passiert?«. »Mitte Dezember bin ich mit ein paar guten Freunden auf eine Hausparty gegangen. Es war eine Party von Ryan Stewart, der Sohn des Bürgermeisters und einer Chefärztin des Krankenhauses. Dieser Typ hat schon häufiger probiert, mich rum zu bekommen, aber ich wollte nie. An jenem Abend hat er mir Drogen ins Getränk getan. Mir war dann schwindelig und er bot an, dass ich mich kurz ins Gästezimmer hinlegen könnte. Doch dann schliefen wir miteinander, in meinem Rausch habe ich kaum etwas wahrgenommen und es einfach geschehen lassen. Er hat das gefilmt.« »Oh mein Gott! Das.. das ist eine Katastrophe. Was ein Dreckskerl!«, schrie Aubrey. »Ja, das ist er.« »Ich bring ihn um!«, schrie Aubrey. Lukes Augen verdunkelten sich mit einem Schlag und waren plötzlich voller Zorn. Im Licht der Laterne konnte ich erkennen, wie er seine Arme anspannte und seine Adern noch mehr als sonst herausstachen. Seine Hände hat er zu Fäusten geballen. Langsam, aber mit kraftvoller, kühler Stimme fuhr er fort:»Bitte sag mir, dass er entweder einen Meter achtzig tief liegt oder nie mehr in die Freiheit kommt.«
»Schön wäre es...«, ich rang um meine Stimme, »Nachdem das Video einigen Leute gezeigt wurde, schrieben mir zwei weitere Mädchen, denen ähnliches mit Ryan passiert ist. Eine war währenddessen nahezu regungslos. Wir brachten es zur Anzeige. Nach und nach kam raus, dass Ryan auch mit Drogen dealt und in anderen krummen Dingen verwickelt war. In der Kleinstadt spricht sich sowas natürlich rum und der gute Ruf der Eltern war hinüber. Sein Vater musste zurücktreten und hat ihm daraufhin den Geldhahn zugedreht. Nach mehreren Verfahren kam er in den Jugendknast, doch er wurde heute freigelassen. Er war auch die Person, die mir die SMS geschickt hat. Ryan fordert bis Dienstag 1500 Dollar, andernfalls würde er das Video meinem Vater senden. Er war damals auf Kur und gemeinsam mit meiner Anwältin habe ich mich dazu entschieden, ihm das nicht zu erzählen. Es hätte ihn gebrochen.«
Aubrey brach erneut in Tränen aus und auch Luke kamen mehrere Tränen. Beide nahmen mich wieder fest in ihre Arme und trotz der Schwere des Gespräches, dem Fakt, dass sie nun alles über mich wissen und der Traurigkeit, welche wie eine Wolke um uns war, fühlte ich mich besser. Viel besser.
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Lost & found - The Way we go
General FictionZwei Todesfälle, die alles verändern. Ein Video, das Leben zerstört. Geheimnisse, die gleich mehrere Leben gefährden. Alles könnte perfekt sein. Doch dann schlug das Schicksal bei Ava mehrfach mit voller Gewalt ein. Um endlich neu anzufangen, zieht...