Ava P.o.v.
Nach der Nachricht von Ryan war ich wie betäubt. Ich konnte nicht fröhlich mit den anderen vorglühen, ich musste einfach raus. Charlotte riet mir, die Nachricht zu vergessen und mir keinen Stress deswegen zu machen - doch das war ehrlich gesagt leichter gesagt als getan. Sollte er das Video tatsächlich meinem Vater senden, möchte ich mir nicht ausmalen, was das mit ihm machen würde. Es gab keinen Menschen, vor dem ich mich so sehr ekelte wie vor ihm. Dabei war Ryan bis zu jenem Tag genau das, was sich wohl die meisten Eltern für ihre Töchter wünschen: ein stets höflicher und freundlicher junger Mann aus wohlhabendem Hause, der ausschließlich Bestnoten schrieb, sich ehrenamtlich engagierte, Teil des Footballteams war und zweifelsfrei eine Ivy League Uni besuchen sollte. Tja, wer hätte auch nur im Ansatz geahnt, was er wirklich für ein Mensch ist.
Gedankenverloren ging ich die Straße hinunter, ohne eigentlich zu wissen, wo der Weg lang führt. Auch wenn ich bereits viermal bei Aubrey und Joel zuhause gewesen bin und in den letzten Tagen einiges von meiner neuen Heimat gesehen habe, hatte ich noch immer keine Orientierung in San Albay. Das Apartment der beiden lag keine fünf Minuten vom Strand entfernt und viele Clubs, Restaurants und Bars waren auch in der Nähe. Doch als Kleinstadtkind dauert es wohl, bis man sich in einer Großstadt zurecht findet. Den Menschenmengen zufolge war ich wohl genau in einer der Straßen, in denen es nur so von Touristen und partywütigen oder hungrigen Menschen wimmelte. Um meine Ruhe zu haben, stellte ich meine Kopfhörer fast auf die höchste Stufe und hörte Take you Down von ILLENIUM. Für einen kurzen Moment konnte ich abschalten, doch dann stieß ich mit einem fremden Mann zusammen. Genau das konnte ich jetzt gebrauchen. Zwar war ich schon immer tollpatschig, doch dass ich so häufig mit fremden Menschen zusammenstoße, - ob es nun meine Schuld war oder nicht - war selbst für mich neu. Als ich zu dem wesentlich größeren Typen hinauf sah, traute ich meinen Augen nicht. Es war genau der Mann, der mich neulich, neben dem Dekan und dessen Sekretärin, in Unterwäsche gesehen hat. Wow, mein Leben hat scheinbar Lust daran, mich ständig zu blamieren.
»Entschuldigung, kennen wir uns?« Oh nein, das hat er mich nicht gerade wirklich gefragt! Es gibt doch so viele Frauen mit mittellangen, karamellblonden Haaren und einer ähnlichen Figur. »Nein, ich denke nicht«, stotterte ich. Die Röte, welche in mein Gesicht schoss, half meiner Glaubwürdigkeit auch nicht gerade. »Hmm, ich denke doch. Gehst du denn zufällig auf die Marson Universität?«, er schmunzelte. Ich verdrehte meine Augen und stimmte ihm zu. Peinlich war es mir zwar immer noch, aber ich konnte es ja eh nicht mehr rückgängig machen. Bereits in den zwei, drei Minuten in meinem Zimmer habe ich ihn als sehr attraktiv wahrgenommen, doch durch das Licht der Abendsonne wurden seine Augen und sein markantes Gesicht noch mehr betont. Erst jetzt fiel mir auf, dass seine Augen türkisblau waren. In Kombination mit seinen dunklen Haaren und dem natürlich gebräuntem Teint wirkten diese nahezu magisch. »Wie wäre es, wenn ich dich als Entschuldigung für den Fauxpas am Dienstag und meiner Unachtsamkeit von eben auf einen Drink einlade?«, fragte er. Verdammt, selbst eine Stimme war unfassbar attraktiv.. und irgendwie sexy. Sie war tief und strahlte dennoch Wärme aus. Ehrlich gesagt konnte ich einen Drink wirklich gut gebrauchen, doch ob das in meinem momentanen Zustand eine gute Idee wäre? Das Angebot war verlockend, doch ich entschied mich dafür vernünftig zu sein. Ich kenne mich - in meinem jetzigen Zustand reichen nur ein paar Drinks und ich ende heulend auf dem Boden einer Club-Toilette und werde von meinen Gefühlen, meiner Vergangenheit, eingeholt.
»Danke, das ist lieb gemeint, aber ich bin noch keine 21 und hab auch noch was vor.« Ein wenig überrascht riss er seine Augen auf. Absagen kannte er wohl nicht. »Sagen wir es mal so, ich bin recht gut mit dem Barbesitzer befreundet, es wäre also kein Problem dir einen Drink zu besorgen. Wenn du aber auf dem Weg zu deinem Freund oder einer Party bist, möchte ich dich natürlich nicht aufhalten.« Er gehörte zweifelsohne zu der Sorte Mensch, denn man nur sehr schwer etwas abschlagen kann. Vielleicht hatte Charlotte recht damit, dass es keinen Sinn macht, mir über die Nachricht Gedanken zu machen und ich mich heute Abend vergnügen sollte. Solange es bei einem Drink bleibt, sollte es ja kein Problem sein. Sie kennt mich am besten und weiß genau, dass ich mich sonst mit einem Eis in meinem Bett verkrochen hätte und mir einen traurigen Film nach dem anderen reingezogen hätte. Oder mich die ganze Nacht über fertig gemacht hätte, weil ich über die schlimmste Zeit meines bisherigen Lebens nachdenken würde.
»Okay, aber nur ein Drink. Ich bin übrigens Ava.« »Ich bin Rafael.« Er lächelte und führte mich in ein Hotel, welches nur wenige Meter von uns entfernt war. Wir stiegen in einen Fahrstuhl und fuhren in die höchste Etage. Er erklärte mir, dass die Bar öffentlich sei und schwärmte von dem Ausblick, der uns erwarten würde. Wir ergatterten einen Platz an der Fensterfront und nahmen auf einer schicken Ledercouch Platz. Da sich die Bar sich über die gesamte Etage erstreckte, bot sie somit den perfekten Blick auf die Skyline San Albays, aber auch auf das Meer. Der Sonnenuntergang schuf eine atemberaubende Atmosphäre. Er orderte einen Pina Colada für mich und einen Gin Tonic für sich. »So, erzähl doch mal etwas über dich«, forderte mich Rafael auf. Ich hasste solche Fragen. Was erzählt man einer so gesehen völlig fremden Person über sich, ohne sie vollkommen zu langweilen oder durch die Tiefpunkte seines Lebens zu verschrecken?
»Hmm, ich komme eigentlich aus einer Kleinstadt in New Jersey. Ich studiere hier PPE und du so?« Okay, Smalltalk war nicht gerade meine größte Stärke. »Oh, da bist du wirklich an das andere Ende des Landes gezogen. PPE ist ein tolles Fach. Ich war bis zum Bachelor auch an der Marson, bin jedoch für meinen Master nach Shanghai gezogen und hab danach für ein paar Monate in Singapur gearbeitet. Nun bin ich wieder hier.« Ich hatte absolut keine Ahnung, wie alt er eigentlich war. Sein Anzug, das selbstsichere Auftreten, die perfekt frisierten Haare und sein markantes Gesicht, verschafften ihm eine gewisse Seriosität und Reife, doch sobald er lachte, wirkte er jünger... und offener und sympathischer. Als könnte er meine Gedanken lesen, beantwortete er die Frage von selbst: »Ich bin übrigens schon 25, du bist sicherlich erst 19 oder 20, oder?«. War es ihm unangenehm, sich mit einer erst 19-jährigen abzugeben? Zwar würde ich in zwei Wochen 20 werden, doch ich stand am Anfang des Studiums und er schien ja schon so einiges erreicht zu haben. Entgegen meiner Erwartung entspannte sich die Atmosphäre jedoch schnell und wir fanden einige Gesprächsthemen. Es tat mir wirklich gut mich abzulenken.
»Wo bleibst du? Ist alles okay?« Fuck. Ich habe die letzte Stunde kein einziges Mal auf mein Handy gesehen und hatte nun ein paar Nachrichten von Aubrey, Sofia und Joel auf meinem iPhone. Zwar habe ich gesagt, dass ich noch zur Party gehen würde, doch angesichts meines spontanem Abgangs hätte ich mich ruhig noch einmal melden können. »Dankeschön für den Cocktail, Rafael. Doch ich habe ein paar Leuten versprochen, dass ich heute noch zu einer Party kommen würde. Es ist schließlich die letzte der Einführungswoche.« »Kein Problem, soll ich dir einen Uber bestellen?«, er pausierte einen Moment, »Oder würde es dich stören, wenn ich mitkommen würde? Ich habe noch einige alte Freunde und gute Bekannte, die dort studieren und ehrlich gesagt versuchen mich diese schon seit Monaten zu überreden, mal wieder feiern zu gehen.«
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Lost & found - The Way we go
General FictionZwei Todesfälle, die alles verändern. Ein Video, das Leben zerstört. Geheimnisse, die gleich mehrere Leben gefährden. Alles könnte perfekt sein. Doch dann schlug das Schicksal bei Ava mehrfach mit voller Gewalt ein. Um endlich neu anzufangen, zieht...