Jesley's P.o.V:
»Hast du alles?«
fragt mein Vater aus dem Flur und ich lasse einen prüfenden Blick über mein ehemaliges Zimmer streifen. Richtig, es ist Mal wieder so weit. Wir müssen umziehen. Mich stört das mittlerweile nicht mehr sonderlich, nach neun Umzügen innerhalb von zwei Jahren bin ich daran gewöhnt neu zu sein und habe mich auch damit abgefunden nirgends richtig Freundschaften zu schließen. Ich bin zur Einzelgängerin geworden und das ist auch gut so. Als Halbwolf hat man es sowieso nicht leicht.
Ja, ihr habt richtig gelesen, ich bin ein Halbwolf, also halb Mensch und halb Wolf. Mein Vater ist ein Werwolf und meine Mutter war ein Mensch, die jedoch bei meiner Geburt gestorben ist. Seitdem lebe ich mit meinem Vater allein. Meine Mutter war seine Mate und als sie starb ist ein Teil seines Herzens mit ihr gestorben, jedenfalls vermute ich das, wissen kann ich es nicht. Sonst gibt es nicht viel spannendes über mich zu erzählen, ich habe keine Geschwister, keine Großeltern und auch keine sonstige Verwandschaft. Es gibt nur meinen Vater, Ascon Kendrick und mich, Jesse Kendrick. Zwar heiße ich mit vollem Namen Jesley, doch was sich meine Eltern bei der Namenswahl gedacht haben weiß ich nicht, vermutlich waren sie auf Drogen oder so. Jedenfalls möchte ich lieber Jesse oder von manchen auch JJ [Jeyjey ausgesprochen ;)] genannt werden.
Als ich sicher bin, dass ich nichts vergessen habe wuchte ich den schweren, riesigen Koffer in den kleinen Flur unserer Wohnung, in dem auch schon die Sachen von meinem Vater bereitstehen.
»Na endlich«
grummelt dieser, sobald ich meine Schuhe angezogen habe und öffnet die Wohnungstüre, um im nächsten Moment seinen Koffer die Treppe herunterzutragen. Mit Zuneigung und väterlicher Liebe hat er es nicht so, er hält nicht viel von Gefühlsduselei und trotzdem gibt es vereinzelte Momente in denen wir uns nahe Stehen. Auch daran habe ich mich mit den Jahren gewöhnen müssen, besonders in den letzten zwei Jahren.
Vor zwei Jahren ist mein Mate aufgetaucht und mit ihm die Angst. Die Angst, in denselben Abgrund zu stürzen wie mein Vater, der an dem Verlust seiner Mate kaputt gegangen ist. Er hat mich schon früh gelehrt, dass ich mich von meinem Mate verhalten soll, egal was die Gefühle mir sagen. Unzählige Horrorgeschichten hat er mir erzählt, wegen denen ich Nächtelang wachlag und mich vor dem Tag fürchtete, an dem ich ihm begegnen würde. Dank meines Vaters und den Geschichten ist das Zusammentreffen mit meinem Mate vor zwei Jahren relativ kurz verlaufen, da mein Vater ihn in den Rücken gebissen und dann mit mir geflohen ist. Und genau das tue ich seitdem. Fliehen. Fliehen vor meinem Mate, der mich hoffentlich niemals finden wird.
Mit meinem riesigen Koffer im Schlepptau mache ich mich auf den Weg nach unten zu unserem Auto und verstaue den Koffer im Kofferraum, während mein Vater schon hinter dem Lenkrad sitzt und ungeduldig mit den Fingern darauf herumtrommelt. Schonmal was von Helfen gehört? Eher nicht. Nachdem ich mich auf dem Beifahrersitz niedergelassen und die Autotür geschlossen habe blickt mich mein Vater auffordernd an und ich seufze genervt auf. Wie ich dieses Ritual hasse!
Jedesmal wenn wir umziehen muss ich meinen Geruch verdecken, zumindest die ersten 20 Kilometer. Für mich als Halbwolf ist das zwar sehr anstrengend, da ich nicht so ausgeprägte Kräfte habe wie ein Vollblutwolf, aber die Tatsache, dass ich meinen menschlichen Geruch, der zur Hälfte in mir steckt, hinterlassen kann erleichtert mir das Ganze. Ich konzentriere mich auf meine menschliche Hälfte und Versuche den Wolf auszublenden, abzuschalten.
»Ein bisschen mehr erwarte ich schon, so langsam müsstest du es ja können«
vernehme ich die raue, monotone Stimme meines Vaters und verdrehe genervt die Augen. Manchmal wünschte ich, ich hätte zumindest eine innere Wölfin, mit der ich ein bisschen über ihn lästern könnte, doch auch das bleibt mir durch meine menschliche Hälfte verwährt. Zumindest kann ich mich Verwandeln, wenn auch unter großen Mühen.
Nach ungefähr einer halben Stunde qualvoller Fahrt nickt mein Vater mir zu und erschöpft lasse ich alle Anspannung von mir fallen. Immer wieder ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man spürt, wie der unbändige Wolf zurückkehrt und seinen Platz in meinem Körper einnimmt. Mein Vater scheint das auch zu merken und grinst ein bisschen. Irgendwie mag ich ihn ja und er kann nicht wirklich etwas für seine mürrische und meist abweisende Art. Es ist eben seine Methode die seelischen Schmerzen zu verarbeiten oder, wie ich es bei ihm auffasse, eher zu verdrängen.
»Wohin fahren wir eigentlich?«
erkundige ich mich nach ein paar weiteren Kilometern schweigen und er antwortet.
»Eine Kleinstadt, nahe einem großen Waldgebiet. Ich habe ein kleines Haus am Rande der Stadt gekauft und ab morgen wirst du dort auch wieder zur Schule gehen.«
Natürlich, Schule geht vor. Ich bin beinahe siebzehn, eigentlich in einem Alter, in dem ich mich einem Rudel anschließen sollte um dort meinen Platz einzunehmen, doch mein Vater versucht mich mit allen Mitteln als Mensch zu erziehen, woran er aber regelmäßig scheitert. Ich bin eben nicht der Typ, der einfach blind Regeln befolgt, eigentlich befolge ich so gut wie gar keine Regeln. Man könnte mich durchaus rebellisch und frech nennen, beides Begriffe, die mir schon des öfteren vorgeworfen wurden.
Nach fünf langen Stunden, in denen ich in dieser Blechkiste von Auto gefangen war kann ich mich endlich wieder bewegen. Hastig steige ich aus und scanne zuerst die Umgebung. Ein paar Häuser, Autos, Bäume. Nichts auffälliges oder ungewöhnliches. Typische, langweilige Kleinstadt. Mein Vater hievt meinen Koffer aus dem Auto und geht mit seinem Gepäck im Arm die Auffahrt zu einem kleinen, unscheinbaren Häuschen hinauf, schließt die Tür auf und geht hinein. Gelangweilt folge ich ihm, diese Gegend passt genau in das Beuteschema meines Vaters: Klein, unauffällig, langweilig. Auch daran habe ich mich gewöhnt.
Nachdem ich mein riesiges Gepäckstück die schmale Treppe hinaufgezerrt habe stehe ich vor drei Türen. Ein Badezimmer und zwei Schlafzimmer. Nach einem kurzen Blick in die zwei Zimmer entscheide ich mich für das rechte, es hat einen winzigen Balkon zur Südseite, von dem man auf den nahen Wald blicken kann.
»Pack das nötigste aus und geh dann schlafen, du musst morgen zur Schule«
erinnert mich mein Vater und verschwindet in das andere Zimmer.
»Dir auch eine gute Nacht«
murmele ich sarkastisch, öffne meinen Koffer, werfe ein paar Sachen in den Schrank, mache mich im Bad fertig und gehe dann schlafen.
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One and a half wolves [1]
Kurt AdamBei anderen 16jährigen Mädchen würde wohl so etwas hier stehen: Ich bin ein ganz normales Mädchen und habe ein ganz normales Leben, bis dieser Junge aufgetaucht ist und... Stop it! Weder bin ich normal, noch mein Leben. Ich bin ein Halbwolf und seit...