12. Kapitel

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Das musste Finëa uns nicht zweimal sagen. So schnell und gleichzeitig so leise wir konnten, folgten wir ihr den Korridor entlang. Fred kontrollierte unterdessen immer wieder die Karte und wurde schon ganz nervös, da McGonagall uns immer näherkam.

«Nächster Wandteppich links!», ordnete er an und wir gingen trotz Finëas Protesten hinter einem Wandteppich mit sich beständig ineinander verschlingenden Blumenranken in Deckung. Es dauerte nicht lange, bis wir auf dem Flur vor dem Wandteppich Schritte hörten, die plötzlich innehielten. Wir hielten alle den Atem an und drängten uns zusammen. Ich hatte grosse Mühe, mir einen Fluch zu verbeissen, als George auf meinen Fuss trat.

«Und was machen wir jetzt?», fragte Jessie nach einer gefühlten Ewigkeit wispernd; die sich entfernenden Schritte draussen vor dem Vorgang waren immer noch ausgeblieben.

«Dem Jungen mit der Karte den Kopf waschen, damit er lernt, meine Anweisungen einzuhalten», knurrte Finëa und auf einmal sah sie gefährlich aus. Die gelben, schrägstehenden Augen funkelten auf uns herab, ihr Mund war zu einer Art Grinsen verzogen, das aber äusserst einschüchternd wirkte, da es den Blick auf spitzzulaufende Zähne freigab. Zusammen mit der Narbe auf ihrer rechten Wange sah sie furchterregend aus. Cedric, Jessie, George und vor allem Fred wichen noch weiter in die Nische hinter dem Wandteppich zurück. Ich blieb stehen, Auge und Auge mit Finëas Raubkatzenblick, der mir seltsam vertraut vorkam.

Schritte vor dem Wandteppich lösten den Bann von Finëas Augen und meine Freunde trauten sich wieder etwas aus der Ecke hervor.

«Sie ist weitergegangen», meinte Fred mit Blick auf die Karte und wir alle atmeten erleichtert auf.

«Dann also weiter», erklärte Finëa düster und trat zurück auf den Gang hinaus, wobei sie einfach mitten durch den Wandteppich schritt. Beinahe hatte ich vergessen, dass sie kein lebender Mensch war, ihr Körper wirkte so fest und ganz anders als die der Geister. Meine Freunde jedenfalls keuchten auf, als sie Finëa beobachteten.

«Was ist sie?», murmelte Jessie und musterte Finëa mit zusammengekniffenen Augen.

Finëa starrte, ebenfalls mit zusammengekniffenen Augen, zurück. «Es gibt bessere Orte, um das zu besprechen», sagte sie und eilte voraus, wir anderen hasteten hinter ihr her. Nicht weit von unserem Versteck entfernt, bog sie in einen Geheimgang ein, der wahrscheinlich tatsächlich noch zu erreichen gewesen wäre, bevor Professor McGonagall uns gesehen hätte. Der Gang führte uns auf eine Galerie, von der man auf die Eingangshalle hinabblicken konnte, aber nicht gesehen wurde, solange man sich nicht direkt ans Geländer stellte. Bis jetzt hatte ich immer geglaubt, dass es sich hierbei um dekorative Elemente handelte und hätte nicht gedacht, dass sich hier oben ein Flur befand. Der Flur eignete sich definitiv als Versteck, allerdings eilte Finëa weiter, bis sie an der Stelle stand, wo sechs Meter unter uns die Tür zur grossen Halle von der Eingangshalle abging. Hier gab es ebenfalls eine Tür. Eine sehr kleine, unscheinbare Holztüre mit verrosteten Eisenbeschlägen und Scharnieren. Finëa legte ihre Hand auf den Türknauf und zog ihn nach oben. Die Tür schwang auf, ganz ohne zu quietschen – dabei schaute sie so verrostet und vernachlässigt aus.

«Los, kommt!» Finëa winkte uns, ihr zu folgen und wir bückten uns unter dem niedrigen Türsturz hindurch und traten in einen ... manche Leute würden es vielleicht Raum nennen, doch es war nicht mehr als ein unausgebauter Dachstuhl. Wir befanden uns direkt unter dem Dach der grossen Halle. Unter unseren Füssen befanden sich lange Holzbretter, die wohl die Decke der Halle bildeten, auch wenn sie von unten nicht zu sehen waren. Über uns waren die dicken, schweren Eichenbalken und die Holzverstrebungen, auf denen weitere Holzbalken und darüber die Ziegel lagen, hin und wieder durchbrochen von einem vor Dreck starrenden Lukarnenfenster. Es war zugig und kalt hier oben und zu alle dem äusserst unübersichtlich. Der Raum war vollgestellt mit diversen Gegenständen, manche mit Tüchern abgedeckt, andere standen einfach da und moderten vor sich hin, wie zum Beispiel der grosse Wandschrank mitten im Raum. Genau auf den führte Finëa uns jetzt zu, öffnete die mittlere Tür des Schranks und bedeutete uns hineinzugehen.

«Ist das ein Verschwindekabinett?», fragte George misstrauisch und musterte den Schrank und Finëa, die davorstand.

«Nein ist es nicht. Es ist das beste Versteck, dass ihr in ganz Hogwarts finden werdet, da niemand mehr weiss, dass es diesen Ort gibt. Und jetzt rein mit euch.»

Nicht wirklich beruhigt bewegten wir uns auf die geöffnete Schranktür zu. Im Näherkommen bemerkte ich, dass der Schrank in äusserst gutem Zustand war, dafür dass er in einem Raum stand, der zwar Schutz gegen Regen, Schnee und zu viel Sonne bot, aber nicht gegen Feuchtigkeit, Hitze oder Kälte. Tatsächlich sah der Schrank aus, als hätte man ihn erst gestern in diese Rumpelkammer gestellt. Links und rechts neben dem Schrank bemerkte ich weitere Möbelstücke, die allerdings alle von Tüchern verdeckt waren und hinter ihnen standen noch mehr, stapelten sich bis zur Decke. Ich ging als letzte durch die geöffnete Schranktür, nach mir kam nur noch Finëa und sie Schlug hinter sich die Tür zu. Lichter entflammten. Flammenlose Laternen hingen von der hölzernen Decke und beleuchteten einen etwa einen Meter breiten Gang, der nach zwei Metern im rechten Winkel nach rechts abbog. Finëa drängte sich an mir und meinen Freunden vorbei und ging voraus den Gang entlang. Wir folgten ihr und sie führte uns durch einen Irrgarten aus hölzernen, von flammenlosen Laternen beleuchteten Korridoren, bis wir schliesslich in einer Sackgasse anhielten. Finëa legte ihre Hand an die hölzerne Rückwand des Ganges und drückte leicht dagegen. Lautlos schwang die Rückwand beiseite und gab den Blick auf einen grossen Raum frei. Mit einem Lächeln winkte Finëa uns herein.

Wir befanden uns noch immer im Dachstuhl der grossen Halle, allerdings war dieser hier ausgebaut. Auf dem Fussboden war Parkett ausgelegt, die Wände waren verputzt, die Deckenbalken in einem hellen, warmen Braunton gestrichen und die Lukarnenfenster waren sauber und boten einen fantastischen Ausblick über das Gelände. Dann fiel mein Blick auf die Einrichtung des Raums. Sofas und Tische mit Stühlen standen herum. Direkt gegenüber von uns lag ein grosser Kamin, in dem ein heiteres Feuer tanzte. Rechts vom Kamin führte eine Türöffnung in einen Flur, links neben dem Kamin führte eine schmale, hölzerne Wendeltreppe nach oben, wo sie ebenfalls in einen Flur mündete. Über dem Kamin hing ein grosses Gemälde, dass einen Wald zeigte, der so echt wirkte, als schaue man durch ein Fenster. Auf der rechten Seite des Bildes im Vordergrund war eine Frau im Profil abgebildet, die fatale Ähnlichkeit mit Finëa hatte. Neben den beiden Türöffnungen, jeweils auf der Seite, die nicht beim Kamin lag, hingen Banner, die die ganze Höhe der Wand einnahmen. Sie waren weiss und zeigten einen Raben, so dunkel wie die Nacht. Auf der anderen Seite des Raums, an der Wand, an der wir standen, hingen ebenfalls zwei dieser Banner und ausserdem noch mehr Bilder. Allerdings waren keine weiteren Personen abgebildet, sondern Orte und Gegenstände. Auf einem der Bilder erkannte ich Stonehenge, doch darauf war der Steinkreis noch intakt. Der untere Teil der Wand war, etwa so hoch ein ausgewachsener Mensch reichen konnte, über und über mit seltsamen Symbolen und Zeichnungen bedeckt und dazwischen waren überall braune Fingerabdrücke.

«Was ist das für ein Ort?», hauchte ich und sah mich staunend um.

Jessie antwortete mir: «Das musst du noch Fragen? Sieh dich doch um, das muss der Gemeinschaftsraum des fünften Hogwartshauses sein.»

«Ja, das ist es», Finëa lächelte. «Willkommen im Haus Finjarelle.»

Unbequeme Wahrheiten - Adrienne Seanorth 2 (HP FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt