Ich musste eingeschlafen sein, denn ich wurde von einem munteren Sonnenstrahl geweckt, der mich an der Nase kitzelte. Meine Kehle war trocken vom vielen Weinen, also stand ich auf, um einen Schluck zu trinken und vergrub mich dann wieder unter der Bettdecke. Ich wollte nicht aufstehen. Nie wieder wollte ich aufstehen. Meine Ma hatte mich mein ganzes Leben lang belogen. Nicht nur, dass sie in Wahrheit gar keine Geschäftsfrau war, sie war nicht einmal ein Mensch. Und ich auch nicht. Ich kniff meine Augen zusammen und versuchte mit aller Macht wieder einzuschlafen. Zum Glück war ich vom Weinen noch so erschöpft, dass es mir auch gelang.
Mein knurrender Magen war es, der mich ein paar Stunden später erneut weckte und mir fiel ein, dass ich seit gestern Morgen nichts mehr gegessen hatte. Unschlüssig stand ich auf und stieg in den Gemeinschaftsraum hinab, wo ich auf die Tür starrte, die hinaus auf den Dachboden und zurück in den bekannten Teil des Schlosses führte. Aber in die grosse Halle konnte ich nicht gehen und in die Küche ...? Nein, auch nicht. Die Gefahr, dass ich dabei irgendjemandem begegnen würde, war zu gross. Die Hauselfen würden mir sicher helfen, aber wenn Dumbledore von ihnen verlangen würde, es ihm zu erzählen, falls ich zu ihnen kam, dann hätten sie keine andere Wahl, als das zu tun – jedenfalls wenn ich die Erklärung der Zwillinge über die Hauselfen und die Befehle ihrer Herren richtig verstanden hatte. Wieder knurrte mein Magen laut vernehmlich und eine plötzliche Bewegung in einem der Sessel im Gemeinschaftsraum liess mich herumfahren.
Finëa sass dort und war bis vorhin ganz in ihre Lektüre vertieft gewesen. Auf ihrem Schoss erkannte ich das Cover von 'Der Herr der Ringe'.
«Hunger?», fragte sie mich.
Ich nickte nur.
«Und was wirst du jetzt tun?» Sie fixierte mich mit diesen gelben, leicht schrägstehenden Augen und ich konnte mich nicht mehr bewegen.
«Ich weiss nicht», presste ich hervor. «Gibt es eine Möglichkeit, etwas zu essen zu bekommen, ohne nach unten zu müssen?»
«Natürlich. Du kannst einen Hauselfen rufen und ihm befehlen, dir etwas zu essen zu bringen. Allerdings hat Dumbledore ihnen befohlen, bei der Suche nach dir zu helfen.»
Meine Schultern sanken bei diesen Worten nach vorn. Wieder einmal hatte ich meine Mutter unterschätzt. Sie wusste genau, dass sie nur abzuwarten brauchte, bis mich der Hunger aus meinem Versteck trieb.
«Und andere Möglichkeiten? Ich könnte doch etwas zu essen zaubern? Oder können sich Fey in so eine Trance versetzen, in der sie ohne zu essen auskommen?» Ich hatte einmal in einem Fantasyroman von sowas gelesen.
«Nein, auch Fey brauchen Nahrung und vergiss nicht, Adrienne, dass nur deine Mutter eine Fey ist. Und was das Zaubern von Essen betrifft, das stellt eine Ausnahme von Gamps Gesetz der elementaren Transfiguration dar.»
«Was?», fragte ich verwirrt.
Finëa zog eine Augenbraue in die Höhe. «Es heisst 'Wie bitte'. Und was Gamps Gesetz der elementaren Transfiguration betrifft: Es beschreibt die Verwandlung des Nichts in etwas Gegenständliches. Allerdings gibt es fünf Ausnahmen, Nahrungsmittel sind eine davon.»
«Also ist es nicht möglich, etwas Essbares aus dem Nichts herbeizuzaubern», fasste ich zusammen. Schön blöd. Ma hatte wirklich an alles gedacht. Resigniert liess ich mich in einen Sessel sinken und versuchte meinen Magen zu ignorieren, der weiterhin lautstark protestierte. Ich würde dann wohl über Weihnachten verhungern und nichts vom Weihnachtsstollen abbekommen. Oder von den Weihnachtsguetzli, dem Lebkuchen, den Zimtsternen, der Weihnachtsgans .... Stopp, Adrienne! Bloss nicht darüber nachdenken, denk an was anderes, denk nicht an Essen, dank an ... denk an ... Verdammt ich hatte soooolchen Hunger! Ich würde das nicht durchhalten, unmöglich. Vielleicht könnte ich mich noch heute hier oben verstecken, ganz vielleicht auch noch morgen, aber spätestens dann würde mir nichts anderes übrigbleiben, als mich meiner Mutter zu stellen.
«Es gibt vielleicht noch eine andere Möglichkeit», sagte Finëa vorsichtig und beobachtete mich aufmerksam.
Mein Kopf schnellte hoch. «Welche? Welche Möglichkeit?» Ich hörte selbst, wie verzweifelt diese Worte klangen.
Und auch Finëa hatte es gehört. «Was würdest du dafür tun, damit du nicht mit deiner Mutter sprechen musst?»
Alles, wäre fast aus mir herausgeplatzt, doch im letzten Moment hielt mich zurück. «Damit ich nie wieder mit ihr sprechen muss?», fragte ich Finëa zögerlich.
«Wenn du das willst ...»
Wollte ich das? Nein, eigentlich nicht. Ich wollte schon wieder mit ihr sprechen. Irgendwann mal. Über etwas anderes als diesen letzten Abend zu Hause.
«Ich kann dir eine Möglichkeit anbieten, wie du zumindest in den Weihnachtsferien nicht mit ihr sprechen musst – ohne hier zu verhungern, wohlgemerkt – aber das ist schwierig und möglicherweise gefährlich.»
«Okay ...?» Fragend sah ich Finëa an und wartete darauf, dass sie fortfuhr. Finëa schien allerdings nichts weiter sagen zu wollen, sondern wartete auf meine Antwort.
«Ich mach's.»
Durchdringend starrte sie mich an. «Hast du dir das auch gut überlegt?»
Nein, wenn ich ehrlich war. «Natürlich.»
Finëa erhob sich aus dem Sessel und kam auf mich zu. Im Gehen nestelte sie an ihrem Ärmel herum und zog schliesslich etwas von ihrem Arm. Ein goldener Armreif in den ein schwarzer Rabe aus Obsidian eingelassen war. Die offensichtliche Festigkeit des Armreifs vor Finëas substanzlosem Körper, den ihr Dasein als Geist mit sich brachte, irritierte mich.
«Du musst für mich herausfinden, wer mich ermordet hat», sagte sie eindringlich und blickte mir aus nächster Nähe starr in die Augen. Wieder hatte ich das Gefühl, mich nicht bewegen zu können, nicht mal mehr sprechen zu können, dabei wollte ich fragen, wie ich das denn anstellen sollte, wo ich doch nicht mal aus dem Gemeinschaftsraum der Finjarelles raus konnte, ohne mich meiner Mutter und den Lehrern stellen zu müssen. Doch Finëa schien das nicht sonderlich zu kümmern, sie nickte nur einmal nachdenklich und griff dann nach meinem Arm. Ich spürte, wie sich etwas Kaltes, Schweres um mein Handgelenk legte – der Armreif mit dem Obsidianraben – und plötzlich wurde mir schwindelig. Finëa hob meinen Arm an und führte ihn mir so vors Gesicht, dass ich unweigerlich den Armreif betrachten musste. Der Rabe sah in Richtung meiner Hand, aber plötzlich bewegte sich der steinerne Kopf des Raben in meine Richtung und dann schlug der Vogel aus Stein seine Lider auf und starrte mich aus Augen aus rotem Granat durchdringend an. Sein Blick schien mich zu bannen, ich konnte nicht mehr wegsehen. Am Rande nahm ich Finëas Stimme wahr: «Nun Adrienne, wir sehen uns dann im Jahre 1013 eurer Zeitrechnung. Gute Reise.» Dann zerfloss die Welt in roten Granat und schwarzen Obsidian.
DU LIEST GERADE
Unbequeme Wahrheiten - Adrienne Seanorth 2 (HP FF)
FanfictionEine Harry Potter Fanfiction Adriennes erstes Jahr ist um und hat eine Menge ungeklärter Fragen bei ihr aufgeworfen. Sie weiss immer noch nicht, wer ihr Vater ist, und dann ist da noch die Frage, weshalb der Grimm sie nicht angegriffen hat. Was hat...