15. Kapitel

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Ein paar Tage später kam Theo, mein Mäusebussard, beim Morgenessen zusammen mit den Posteulen in die grosse Halle geflattert, setzte elegant auf dem Milchkrug auf, der daraufhin umfiel, und schüttelte sich den ersten Schnee des Jahres von den Federn, so dass wir ebenfalls in den Genuss des Schneefalls kamen. Schliesslich liess er den Brief auf mein Butterbrot fallen und sah mich frech an. Ich brauchte gar nicht nachzuschauen, ich wusste schon, von wem der Brief war. «Hier, du ungezogener Vogel», sagte ich zu ihm und hielt ihm ein paar Speckstreifen hin, die er in einem Bissen herunterschlang. Meine Güte, was der immer für einen Appetit hatte. Doch anstatt wegzufliegen, wie ich es erwartet hatte, nachdem er den Speck verschlungen hatte, blieb Theo hier, sah mich nochmals durchdringend an und inspizierte dann den Käse, während er offensichtlich darauf wartete, dass ich den Brief las.

Liebe Adrienne

Ich habe jetzt schon sehr lange nichts mehr von dir gehört. So kann das nicht mehr weitergehen, das ist dir hoffentlich klar. Bevor du auf die Idee kommst zu fragen, ich werde dir nicht erlauben, über Weihnachten in Hogwarts zu bleiben. Wir haben einiges zu besprechen, wie du dich sicher noch erinnerst. Ich werde selbstverständlich mein Versprechen halten und dir all deine Fragen beantworten, auch über deinen Vater. Joanne würde sich auch freuen, wenn du über Weihnachten nach Hause kommst.

Bis dann, in Liebe (auch wenn du das nicht glaubst)

Ma

PS: Theo wird dich nicht in Ruhe lassen, bis du mir schreibst und versprichst heimzukommen.

Ich musste irgendein Geräusch von mir gegeben haben, denn Alicia, die mir gegenübersass, sah mich fragend an. «Meine Ma versucht mich zu erpressen», erklärte ich und reichte ihr den Brief, wobei ich Theo aufscheuchte, der mittlerweile tatsächlich den ganzen Käse gefressen hatte. Kannte der denn keinen Anstand? Jetzt frass er schon seiner Beute das Essen weg. Wie sollten die Mäuse denn da dick und feiss werden?

«Du solltest dich wirklich mit ihr versöhnen, Adrienne», beschied mir Alicia und gab mir den Brief zurück. «Deine Ma hat recht, so kann das nicht weitergehen.»

«Hmpf», machte ich und war etwas verärgert, dass Alicia nicht auf meine Bemerkung über Bestechung eingegangen war. Es war wirklich ein fieser Schachzug von meiner Ma, mich mit Informationen über meinen Vater zu ködern. Und mussten eigentlich alle ständig auf dem Streit zwischen mir und meiner Mutter herumreiten? Schliesslich hatten sie alle keine Ahnung, was da tatsächlich passiert war an diesem Abend. Wenn sie meine Ma gesehen hätten, blutverschmiert wie sie war, und wenn ihre Ma sie danach ebenfalls bedroht hätte, dann würden sie verstehen, weshalb ich nicht nach Hause wollte.

Der letzte Abend vor den Weihnachtsferien kam und alle begannen ihre Koffer zu packen. Ich weigerte mich, auch wenn Alicia und Angelina noch so sehr auf mich einredeten. Ich würde nicht nach Hause gehen und damit basta. Schliesslich gaben die beiden auf und sagten mir voraus, dass ich es bereuen würde, wenn ich mich mit meiner Mutter nicht versöhnte. Das war mir egal.

«Und ausserdem wirst du sie sowieso früher oder später wiedersehen müssen. In den Sommerferien kannst du schliesslich nicht hierbleiben», erklärte mir Angelina, die Hände in die Hüften gestemmt. Und wenn schon, bis dahin war es noch über ein halbes Jahr hin.

Am nächsten Morgen bestiegen die anderen den Hogwarts-Express und fuhren nach Hause. Ich schnappte mir ein Buch – Der Herr der Ringe: Die Gefährten – und vergrub mich in einem der gemütlichen Sessel vor dem Kamin im Gemeinschaftsraum der Gryffindors. Ich war gerade bei den Minen von Moria angekommen, als ein Drittklässler in den Gemeinschaftsraum kam und direkt auf mich zuhielt.

«Du bist Adrienne, richtig?» Auf mein Nicken hin fuhr er fort: «Du sollst zu McGonagall, deine Mutter ist hier um dich abzuholen.»

Ich spürte, wie alle Farbe aus meinem Gesicht wich. Meine Ma war hier? In Hogwarts? Aber wie war das möglich? Wie konnte sie wissen, wo Hogwarts lag? Und wie konnte sie so schnell herkommen? Es konnte noch keine Stunde her sein, dass der Zug in London angekommen war.

«Du solltest besser gehen, bevor McGonagall dich persönlich holen kommt. Sie wirkte ziemlich ... aufgebracht», riet mir der Drittklässler.

Ich nickte und machte mich auf den Weg in den Korridor hinaus, mein Buch immer noch fest umklammert. Keine Sekunde lang dachte ich daran, tatsächlich zu McGonagall zu gehen und meiner Mutter gegenüber zu treten. Aber hier konnte ich auch nicht bleiben. Was ich brauchte, war ein Versteck, das Beste, das sich in ganz Hogwarts finden liess: den Gemeinschaftsraum der Finjarelles. Und dort musste es auch Betten, Duschen und all sowas geben. Vielleicht könnte ich die ganzen Ferien hindurch dort bleiben. Finëa würde sicherlich nichts dagegen haben. Oder?

Tatsächlich war Finëa sehr erfreut, mich zu sehen, wurde aber nachdenklich, als ich ihr von meiner misslichen Lage erzählen. «Natürlich kannst du hierbleiben, wenn du das willst. Die Schlafsäle der Mädchen sind oben», sie deutete auf die Wendeltreppe links vom Kamin, die ein Stockwerk höher in einen Flur mündete. «Allerdings weiss ich nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist ...» Sie liess den Satz in der Luft hängen und sah mich erwartungsvoll an.

«Es ist eine gute Idee», sagte ich stur und machte mich auf den Weg nach oben, um mich umzusehen.

Ein paar Stunden später – ich sass im Gemeinschaftsraum der Finjarelles, wo ich mir einen Sessel vor den Kamin gezogen hatte und versuchte mich auf den 'Herr der Ringe' zu konzentrieren – kam Finëa zurück.

«Du sorgst da draussen ganz schön für Wirbel. Die Lehrer und die Vertrauensschüler, die hiergeblieben sind, suchen das ganze Schloss nach dir ab. Deine Mutter war fuchsteufelswild, als sie vorhin Minerva McGonagall dazu verpflichtet hat, sie in euren Gemeinschaftsraum zu bringen und du nicht dort warst .... Nun man sollte das Temperament einer Fey nie unterschätzen. Ich glaube, die Lehrer haben eine Heidenangst davor, was sie mit ihnen anstellen wird, wenn sie dich nicht finden.»

«Eine Fey?!» Geschockt sah ich Finëa an und versuchte zu verarbeiten, was sie da gerade gesagt hatte.

Finëa sah fast genauso erschrocken zurück und auf einmal wurde mir klar, dass sie es schon eine ganze Weile gewusst oder zumindest geahnt hatte. Aber mir hatte sie nichts davon gesagt, warum auch? Es war schliesslich nur meine Mutter. Und wen sollte es schon interessieren, dass ich Halb-Fey war?

«Entschuldige, du hättest es nicht so erfahren sollen», sagte Finëa kleinlaut.

«Wie sonst? Gar nicht? Denn darauf schien das ganze doch hinauszulaufen, nicht?», schrie ich. «Wieso hat sich niemand je die Mühe gemacht, mir das zu sagen? Adrienne, du bist Halb-Fey – was ist so schwierig an diesen vier Worten!?»

Ich war aus dem Sessel hochgesprungen, die Gefährten waren achtlos zu Boden geflattert. Am liebsten wäre ich weggerannt, aber da draussen auf den Korridoren warteten die Lehrer und die Vertrauensschüler auf mich. Das Einzige, was mir blieb, war der Weg die Wendeltreppe hoch und in die Schlafsäle und den nahm ich auch. Ich schlug die Tür zu dem Schlafsaal, in dem ich mich einquartiert hatte, so heftig zu, dass sie beinahe aus den Angeln flog, dann warf ich mich aufs Bett und begann zu schluchzen.

Unbequeme Wahrheiten - Adrienne Seanorth 2 (HP FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt