3. Kapitel

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Schliesslich kam der erste September. Es war schon fast acht Uhr, als Mrs Weasley uns weckte. «Los, los, aufstehen! Oder wir kommen zu spät», rief sie in Ginnys Zimmer, das ich mir mit der jüngsten Weasley teilte.

Der Morgen war ein einziges Gehetze. Nachdem wir im Stehen unser Frühstück heruntergeschlungen hatten, rannten alle durchs Haus und packten ihre Koffer zu Ende. Da ich die ganze Zeit über, die ich bei den Weasleys verbracht hatte, aus meinem Koffer gelebt hatte, war dieser, bis auf ein paar schmutzige Kleider, die Mrs Weasley netterweise für mich gewaschen hatte, bereits gepackt. Um kurz nach neun sass ich auf meinem Koffer neben der Tür, wo Mr Weasley mich aufgabelte und mir half, den Koffer in den Kofferraum eines alten, hellblauen Ford Anglia zu wuchten. Ich erinnerte mich, wie ich letztes Jahr um diese Zeit schon seit fast zwei Stunden in King's Cross auf einer Bank gesessen hatte, weil meine Mutter mich um halb acht am Bahnhof abgeladen hatte und dann zur Arbeit gefahren war. Das war ja wohl der beste Beweis dafür, dass sie eine Rabenmutter war.

Es war fast zehn Uhr, als die anderen endlich mit ihren Koffern nach draussen kamen, sie ins Auto luden und wir endlich los konnten. Die Fahrt nach London verlief ereignislos, mal abgesehen davon, dass wir uns zu zehnt (!) in einem Vierplätzer drängten und es dementsprechend laut und chaotisch zu und her ging. Wie genau wir es geschafft hatte, uns alle samt fünf riesigen Schulkoffern in das Auto zu quetschen, war mir schleierhaft, aber ich vermutete stark, dass da Zauberei im Spiel war.

In King's Cross ging das Gehetze weiter. Wir luden unsere Koffer auf Gepäckkarren und spurteten den Bahnsteig entlang zur Absperrung – um zehn vor elf waren wir endlich am Gleis. Dieselbe grosse, rote Dampflok, die auch schon letztes Jahr den Zug gezogen hatte, wartete dort und hüllte den Bahnsteig in weissen Dampf. Wir brachten unsere Koffer in den Zug und trafen uns dann wieder draussen auf dem Perron, wo Mrs und Mr Weasley sich von uns verabschiedete. Mrs Weasley verteilte Brote und ermahnte uns, uns auch ja zu benehmen, wobei ihr Blick verdächtig lange auf mir verweilte. Ich musste wieder an den ganzen Ärger denken, den ich mir und Charlie und den Zwillingen eingehandelt hatte, als wir letztes Jahr im Verbotenen Wald nach dem Monster gesucht hatten, dass die Katzen verstümmelt hatte. Es war ein Grimm gewesen und ich war ihm dreimal nur mit knapper Not entkommen. Ich hatte nicht vor, je wieder einen Fuss in den Verbotenen Wald zu setzen, auch wenn der Grimm jetzt tot war.

Ginny quengelte herum, weil noch so lange dauern würde, bis sie mit nach Hogwarts durfte, und nahm uns allen das Versprechen ab, ihr jeden Tag zu schreiben. Wenn wir das aufteilten, machte das einen Brief alle fünf Tage. Auch wenn ich nicht wusste, was ich alle fünf Tage schreiben sollte.

Schliesslich schrillte ein Pfiff über den Bahnsteig, Mrs Weasley umarmte uns ein letztes Mal, Mr Weasley schüttelte uns die Hand und dann scheuchten sie uns in den Zug. Die Türen schlossen sich und der Zug fuhr ruckelnd an – und ich erstarrte. Dort draussen auf dem Bahnsteig stand meine Ma. Sie sah so aus wie immer; strenge Frisur, weisse Bluse, blauer Blazer, schwarzer Rock. Aber vor meinen Augen blitzte das Bild aus dieser Nacht auf, als sie da im Flur stand. Blutverschmiert.

«Na dann, wir sehen uns heute Abend wieder», sagte Percy, nahm seinen Koffer und verschwand den Gang hinab.

«Ich gehe auch mal meine Freunde suchen. Bis später», verabschiedete sich auch Charlie und liess mich mit den Zwillingen zurück.

«Na dann, wollen wir uns ein Abteil suchen?», fragte Fred. «He, Adrienne, alles in Ordnung bei dir?»

«Hm, was? Jaja, alles gut», sagte ich abwesend, während der Zug in eine Kurve ging und der Bahnsteig und meine Mutter aus Sicht verschwanden. Ich folgte den Zwillingen und wir schleiften unsere Koffer hinter uns her den Gang entlang. Was hatte meine Mutter auf dem Gleis gewollt? War sie gekommen, um sich von mir zu verabschieden? Nein, das war lächerlich. Sie hatte wahrscheinlich sichergehen wollen, dass ich niemandem von dem erzählte, was ich gesehen hatten.

Unbequeme Wahrheiten - Adrienne Seanorth 2 (HP FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt