4. Depth perception/ Tiefenwahrnehmung (Hospital visits)

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Mit wild schlagenden Herzen drückte ich die Klinke der Tür runter und betrat den langen Krankenhausflügel. In einem Bett beinahe am Ende des Saals fand ich ihn; aufrecht saß er da und hielt ein Buch in seiner Hand. Die anderen Patienten starrten entweder stumm vor sich hin oder fuhren die armen, gestressten Krankenschwestern an. Erst als ich kurz vor seinem Bett war, bemerkte er meine Anwesenheit und blickte auf, lächelte mich sogar an. War er glücklich mich zu sehen? Aber...warum sollte er? "She...Holmes. Wie schön sie zu sehen! Ich habe sie gar nicht reinkommen sehen; ich habe immer noch ein paar Probleme..." Mir drehte sich der Magen um als ich den Verband um seinen Kopf und seinem rechten Auge sah. "Natürlich, ich kann meinen Boswell hier doch nicht alleine versauern lassen! Wie geht es ihnen?" "Ganz gut... Könnten sie mir bitte die Wasserkaraffe reichen? Ich greife ständig daneben..." "Sicher doch..." Sobald ich ihm ein Glas Wasser eingeschenkt hatte, legte er das Buch beiseite und ich betrachtete seine Hand die nun reglos neben ihm lag. Der Wunsch nach ihr zu greifen, sie zu halten und streicheln, wuchs und brannte in mir...aber es wäre nicht richtig. Nicht in der Öffentlichkeit... Meine Aufmerksamkeit wurde von dem jungen Paar uns gegenüber angezogen. Engumschlungen saßen sie beieinander und küssten sich. Hitze schoss mir in die Wangen wie ich bemerkte das John meinem sehnsüchtigen Blick gefolgt war und mich nun angrinste. Er beugte sich zu mir rüber, legte seine Lippen an mein Ohr und flüsterte mir zu: "Die fressen sich ja gegenseitig auf, was?" Ich zwang mich dazu, ihn anzulächeln. "Wir müssen leider noch warten bis ich entlassen werde...aber ich freue mich schon wenn ich dich endlich wieder mit beiden Augen ansehen kann!" John war ein Mann der Medizin...er wusste bereits vor allen anderen das sein Auge nicht mehr zu retten war... Alles was er sagte, diente lediglich dazu, mein Gewissen zu beruhigen. Es war allein meine Schuld, dass er das Augenlicht auf einer Seite verlieren würde...und trotzdem schaffte er es noch immer, mich anzulächeln, sich über meine bloße Anwesenheit zu freuen...während ich jedes mal wenn ich ihn nun anblickte, an jene Nacht zurückdenken musste. Einfacher Fall, Juwelendiebstahl. John war dem Täter dicht auf den Versen, doch es war unser aller Aufmerksamkeit entgangen, dass er ein Messer hatte. Er zückte es als John ihn überwältigte und... Lestrade machte den Mann dingfest während ich John sofort ins Krankenhaus brachte, doch die Wunde hatte sich in der ersten Nacht seines Aufenthalts entzündet, es kam zu Komplikationen. Hätte ich ihn nicht dazu gedrängt, mich auf diesen Fall zu begleiten und hätte ich nicht auf Zeit gespielt während das Messer gefährlich nahe über Johns Gesicht schwebte... "Sherlock?" Johns Flüstern holte mich sofort in die Wirklichkeit zurück, ins Hier und Jetzt. Seine Hand berührte mich am Arm, ohne auffällig zu wirken und sein Auge blickte mich besorgt an. "Bist du in Ordnung? Was ist los?" "Nichts!" Ein zaghaftes Lächeln. "Mir ist nur eben eingefallen, dass ich noch etwas zu erledigen habe... Ich komme dich morgen früh wieder besuchen..." Die Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen...aber im Moment konnte ich ihm einfach nicht länger unter die Augen treten...

Die nächste Woche besuchte ich John jeden einzelnen Tag, spendete ihm jedes Mal eine Weile Gesellschaft oder schmuggelte Essen von Mrs Hudson hinein, wünschte ihm gute Besserung von Mrs Hudson und Lestrade und kehrte abends mit einem noch schwereren Gewissen nach Hause zurück...bis ich irgendwann in Begleitung zurückkam...

"Wann darfst du den Verband abnehmen?", fragte ich John während ich ihm half, die Stufen zu unserer Wohnung zu erklimmen. "Morgen, aber sie meinten, es würde heute Abend auch schon gehen. Assistierst du mir?" Mein kurzes Zögern ließ ihn aufsehen. "Natürlich. Willst du dich etwas hinlegen?" "Ja, ich bin ziemlich erschöpft..." So siehst du auch aus... "Kuscheln?", fragte ich, ein Angebot welches er dankend annahm. Nicht viel später war er eingedöst, eingerollt auf dem Sofa, Kopf auf meiner Brust. Vorsichtig strich ich ihm durchs Haar und küsste seine Stirn. Es tut mir so leid, John...

"Und? Wie sehe ich aus?" John saß vor mir auf dem Sofa nachdem ich ihm hochvorsichtig, Schicht für Schicht, den Verband abgenommen hatte. Mein Herz stach seltsam als er schließlich komplett unten war. Die Wunde war zwar nicht mehr entzündet aber noch immer nicht verheilt. Sie zerfurchte sein Gesicht, schob sich von seinem Augenlid bis zu seiner Wange. Erwartungsvoll blickte er mich an, sein rechtes Auge schielte seltsam an mir vorbei und schien hart und unbeugsam wie Marmor, doch das andere besaß noch immer dieses vertraute Glitzern eines Ozeans in der Sonne, warm und freundlich. Mit einem Lächeln verbarg ich meine Schuldgefühle und küsste seine Wange. "So gut wie eh und je!"

John versucht zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber ich sehe, wie furchtbar frustriert er ist. Bei einem Spaziergang waren wir mit einem jungen Mädchen zusammengestoßen; er hatte ihr aufgeholfen und ihr zugelächelt, doch sie schien von seinem milchigen blindem Auge verängstigt zu sein und ergriff die Flucht. Kleine Lady...er ist nichts weiter als ein riesiger Teddybär, der das ungeheure Pech hat, mich als seinen Freund zu haben...

"Bin ich wirklich so abstoßend?", fragte er eines Abends und ich muss zugeben, dass diese Frage sich wie ein Schlag in die Magengrube für mich anfühlte. "Das ist lächerlich und das weißt du!" "Achja? Und warum willst du mich dann nicht mehr anschauen?" "John, ich..." "Denkst du, ich bin so dumm und merk es nicht, wie du immer wieder meine Gegenwart meidest und mir nicht einmal ins Gesicht blicken willst? Es tut mir leid, aber ganz blind bin ich dann doch noch nicht..." "Darum geht es nicht..." "Wirklich? Um was dann?" Schon öfter hatte ich die Vermutung, dass jeder Mensch nur eine bestimmte Menge an Geduld zur Verfügung hatte, manche mehr, manche weniger und John hatte immer zu den Menschen gehört, die ungewöhnlich viel davon besaßen... doch nun wurde mir schmerzlichst bewusst, dass die Jahre mit mir und diese neue Verletzung seinen Vorrat wohl ziemlich erschöpft hatten... "Ich fühle mich...schuldig. Wegen deinem Auge, deinem...Handicap. Hätte ich nicht darauf beharrt, dass du mich begleitest und hätte ich nicht durchgehend falsch gehandelt, könntest du noch einwandfrei sehen. Deinen Blick habe ich gemieden, weil ich so immer vor Augen hatte, was ich dir angetan habe... Ich hatte Angst, irgendwann statt Liebe nur noch Vorwurf oder Hass in deinen Augen zu sehen wenn du mich ansiehst und...ich glaube nicht, dass ich das verkraftet hätte..." Die Worte sprudelten so hervor wie ein Wasserfall und ich konnte sie nicht mehr aufhalten. Gesagt war gesagt. Als ich zu ihm hinblickte, war der Ausdruck von Ärger dem von völliger Verblüffung gewichen. "W...was? Ist das wahr?" Ich nickte. "Oh, Sherlock! Das...ich...ich würde nie auf die Idee kommen dir für das, was passiert ist, die Schuld zu geben! Egal was du gemacht hättest, dieser Typ hätte immer gleich gehandelt. Ich habe damals gewusst, worauf ich mich einlasse, als ich angefangen habe, mit dir zu arbeiten und auch, dass nicht immer alles glimpflich ausgehen kann. Das habe ich bereits in Afghanistan gelernt. Aber hey, wenn du dir Trophäen von deinen Fällen wie Adlers Portrait angeln darfst, warum darf ich keine sammeln? So hab ich wenigstens eine kleine Erinnerung... " Er grinste mich an und ich konnte nicht anders und erwiderte die Geste mit einem zaghaften Lächeln. "Aber...Dein Auge...deine Arztkarriere..." "Ich habe zwar meine Tiefenwahrnehmung eingebüßt, aber noch immer spüre ich die volle Tiefe meiner Liebe zu dir...und die werde ich nie verlieren...und das ist das wichtigste..." "Beim Jupiter, John, war das kitschig..." Ich lächelte, zum ersten Mal wieder ehrlich und frei. "Weiß ich, aber in meinem Kopf klang das irgendwie besser..." Ich lehnte mich vor um seine Stirn zu küssen. Reflexartig schloss er die Augen und ich nutzte die Chance um das Selbe bei seinem verletzten Auge zu tun. Beinahe schüchtern berührten meine Lippen sein geschlossenes, vernarbtes Lid, ich hörte wie er die Luft einsog, spürt seine Hand in meine gleiten. "Achte das nächste Mal nur darauf, daß deine Trophäen weniger gefährlich sind..." "Versprochen", hauchte er, ehe er unsere Lippen miteinander versiegelte.

JohnLock OTP challengeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt