KAPITEL II - Teil 1

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Das Sein über dem Nichtsein

„Autsch", brummte Noya und kratzte sich am Hinterkopf. Neben seinem Stuhl lag eine zusammen geknüllte Kugel aus Papier. Er hob sie auf und faltete es auseinander.
Hör' auf so nachdenklich zu sein!!!!!!!
Noya drehte sich zu Tanaka um, der ihn wütend ansah. Er konnte sich seit der Ankunft von der Neuen nicht mehr konzentrieren. Ihn quälten Gedanken, die er schlecht zuordnen konnte. Auch gefühlsmäßig stand er zwischen zwei Stühlen, Freude und Trauer. So richtig wusste er nicht mit sich anzufangen und verlor schnell die Konzentration. Am Lernen hatte er den Spaß verloren und über seine Zukunft machte er sich keine Gedanken mehr. Schließlich ist aus ihm ein Monster geworden und Schuld waren diese Gefühle, die er seit langem nicht mehr verspührt hatte. Stattdessen loderte etwas anderes tief in ihm.
Lass mich, kritzelte Noya auf das Papier und schmiss es zurück zu Tanaka als sich der Lehrer zur Tafel gedreht hatte. Er vernahm ein dumpfes Brummen aus den hinteren Reihen, ihn interessierte es wenig. Er wollte nur raus und nach Hause, wo er den ganzen Tag im Bett unter der Decke eingekuschelt seine Musik hören konnte. Seitdem der Fluch auf ihn lag, hörte er gehäuft Musik, die Licht in seine Dunkelheit brachte und sich Fragen leichter beantworten ließen. Manchmal wollte er nicht einmal das Tageslicht in sein Zimmer lassen. Selbst seine tägliche Körperpflege kostete ihn Überwindung.
Es sind mittlerweile seit Angie's Ankunft einige Wochen vergangen. Sie wuchsen als Team für- und miteinander, aber Noya drückte sich vor dem Training seitdem sie mit ihren komischen Dingen ankam. Er wollte nicht, dass sie merkte, dass er nervös in ihrer Anwesenheit wurde. Das wurde alles notiert und das wollte er umgehen vermeiden. Er wusste, dass er ihr damit keinen Gefallen tat.
Die Schulkingel ringte.
Er nahm seine Brotdose, öffnete sie ein Stück und nahm sich die kleine blaue Pille, die er sich schnell hinter warf. Es beruhigte ihn, deshalb machte er seit kurzem wieder mit. Es fuhr seine Aufregung runter, seine Atmung und oft verzögerte es seine Reaktionszeit, aber damit konnte er leben. Solange sie es nicht bemerkte.

„Was war das denn?!", fragte Tanaka und nahm ihm die Brotdose weg. Auch ihm war die Veränderung aufgefallen. Schließlich waren sie sowas wie beste Freunde. Er schaute in die Dose, nichts. Außer Brot und eine verpackte Süßigkeit.
„Man, Noya! Guck' dich mal an. Wie siehst du überhaupt aus?" Tanaka zog an den übergroßen Puller, den Noya schon an zwei Tagen hintereinander trug. „Und deine
Haare." Sie waren nicht wie sonst steil nach hinten gestylt, sondern lagen platt am Kopf. Noya zuckte desinteressiert mit den Schultern und ignorierte ihn. Ihm war es egal wie er rumlief. Es war keine Modenshow an der er teilnahm.
„Du weißt, das sehen die Lehrer nicht gern, Noya.", fing Tanaka schnaufend an. „Wenn du reden willst-..."
„Lass' gut sein. Ich will nicht reden, Tanaka.", murmelte Noya und schob sich seine Kopfhörer in die Ohren.
Play.
Kopf aus, Musik an. Er stützte seinen Kopf und sah aus dem Fenster. Was sie jetzt wohl machte? Sie hatte erzählt, dass sie einen ganzen Monat nach Tokio in das städtische Klinikum musste, um dort ihren praktischen Pflichteinsatz zu absolvieren. Vier Wochen konnten so lang sein. Die würde er schon irgendwie rumkriegen, dann wäre sie wieder hier und die Pillen konnte er beruhigt weiter schmeißen. Trotzdem war er auf Sugawara eifersüchtig. Er hatte die Schlüssel ihres Apartments bekommen, um sie auf Vordermann zu bringen und um Ordnung zu halten. Zu gern würde er auch einmal hinein schauen. Ob die Wohnung genauso gut nach ihr roch wie sie? Unbewusst fasste Noya sich an die Nase. Vielleicht bekam er die Gelegenheit, nachdem sie wieder hier war. Er musste sich nur trauen und den Mut haben. Wo war seine Stärke geblieben? Seine Gelassenheit. Er ließ den Kopf auf den Tisch knallen und biss die Zähne so doll aufeinander, dass ihm der Kiefer schmerzte. War es das wirklich wert? Wie oft hatte er versucht auf ein Mädchen zuzugehen und wurde kläglich enttäuscht? Und jetzt war sie nicht einmal Japanerin sondern kam von weit her. Er wollte sich dafür ohrpfeigen, dass die kalte Flamme langsam Wärme spendete. Sollte er damit zu Tanaka? Nein, dafür ist er zu aufgekratzt und würde es nicht verstehen. Schließlich stand er auf Kiyoko und interessierte sich für keine andere. Vielleicht Sugawara? Nein, wenn er schon ihren Schlüssel bekam und so scheißensnett war, dass er hätte kotzen können. Noya würde ihm in die Karten spielen. Aber so genau wusste er es nicht, ob Suga sie toll fand. Zuletzt blieb nur noch Daichi übrig. Er musste sich doch auskennen, die Gefühle anderer deuten können und da er sowieso schon eine Beziehung geführt hatte, musste er ihn verstehen.
Entschlossen ballte Noya seine Hände zu Fäusten und sprang von seinem Platz auf. Wenn nicht jetzt, wann dann? Soll er als Jungfrau sterben? Soll er weiter vom Spielfeldrand zugucken? Soll er wieder der Loser der Nation sein?
„Noya!", rief Tanaka doch bemerkte schnell, dass er nicht aufzuhalten war. Seine Musik in seinen Ohren trieb ihn an. Vor ihm tauchte das Schild der dritten Jahrgänge auf. Er schluckte schwer. Die Tür der Klasse stand offen. Er schaute hinein und sah direkt in Daichi's Augen, die den selben Gedanken gefasst hatten.
„Ich komme gleich wieder.", sagte er zu Suga, der nur nickte und ihn laufen ließ. Noya riss sich die Kopfhörer aus den Ohren und fiel Daichi in die Arme. Dieser umfasste ihn innig und verharrte einen kurzen Augenblick mit ihm auf der Stelle bevor beide in eine ruhige Ecke des Schulgeländes gingen. Noya brach in Tränen aus. Das hatte Daichi noch nie von ihm
gesehen. Er nahm ihn sofort in die Arme und wischte seine Wangen trocken.

RED EYES - HQ!!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt