Kapitel 3 - Der Anruf

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Kaum jemand schaffte es, Andreas so aufzuregen wie sein Bruder.

Es kam schon öfters vor, dass die beiden sich in den Haaren lagen, besonders gegen Ende der Tour, wenn Andreas seine Familie vermisste und die beiden gereizt waren, weil sie seit Monaten auf engstem Raum miteinander leben mussten. Aber meistens ging es um Kleinigkeiten, die kaum von Bedeutung waren und nachdem die beiden ein wenig Dampf abgelassen hatten, war alles schnell wieder in Ordnung.

Ernsthaften Streit gab es relativ selten. Das war etwas, das ihnen ihr Vater mit auf den Weg gegeben hatte. Dass die Arbeit niemals einen Keil zwischen sie treiben durfte.

Andreas nahm einen tiefen Atemzug und dann läutete sein Handy. Er zog es aus der Hosentasche, hebte ab und fühlte wie sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen breit machte.

„Schon auf?", fragte er seine Frau verschmitzt, obwohl er genau wusste, dass sie bereits die Kinder zur Schule gebracht hatte. „Was verschafft mir so früh am Morgen die Ehre?"

„Ich vermisse dich", sagte Steffi und Andreas malte sich aus wie sie am Küchentisch saß und durch die Terrassen-Tür in den Garten starrte, eine Tasse dampfenden Kaffee in der Hand.

Sein Herz gab einen schmerzhaften Stich vor Sehnsucht. „Ich dich auch. Wie verrückt."

„Wie laufen die Vorbereitungen?", fragte Steffi.

Andreas seufzte und warf einen Blick über die Schulter, wo Chris sich immer noch im Tour Bus verschanzte. „Geht so. Man merkt, dass bei jedem ein bisschen die Luft raus ist. Ich bin froh, wenn wir uns morgen auf den Heimweg machen."

„Ist etwas passiert?", wollte Steffi wissen. Sie hatte immer schon ein seltsames Feingespür für solche Dinge gehabt. "Geht es euch gut?"

Andreas schloss für eine Sekunde die Augen. „Chris und ich haben uns gestritten."

„Oh", sagte Steffi bedrückt.

„Der Idiot hat Fieber und kann sich kaum noch auf den Beinen halten, aber als ich vorgeschlagen habe, dass wir die Show absagen, ist er ausgetickt. Du weißt ja wie stur er ist."

„Andreas ..." Steffi hörte sich besorgt an. „Was ihr da macht, ist gefährlich, okay? Es kann so viel schiefgehen. Wenn nur einer von euch bei der Show unaufmerksam ist, dann—"

„Hey", sagte Andreas. Er umschloss das Handy etwas fester mit seinen Fingern und wünschte sich, dass er anstelle des harten Plastiks Steffis Hand drücken konnte. „Die meisten Tricks können Chris und ich im Schlaf. Wir haben immer ein Auge aufeinander. Das weißt du doch."

„Ja, aber wenn ihr euch jetzt auch noch gestritten habt—"

„Hey." Andreas schnaubte kurz auf. „So sehr kann ich gar nicht mit ihm streiten, dass ich jemals zulassen würde, dass ihm was passiert."

„Das weiß ich doch", sagte Steffi. Andreas hatte immer schon auf seine beiden Geschwister aufgepasst. Sylvia war ja nur ein Jahr jünger als er und schon als Kind relativ eigenständig gewesen, aber Chris was eben das Küken in der Familie und Andreas hatte immer ein Auge auf ihn gehabt. Das ganze brüderliche Gezanke war genauso ein Teil der Show wie die Illusionen selbst.

„Stell dir nur vor Chris verliert das Bewusstsein, während ihr da durch die Luft fliegt, oder—"

„Hey, hör auf", unterbrach Andreas seine Frau. „Mach mich jetzt nicht fertig, ja?"

Trotz der angeschlagenen Stimmung, schnaubte Steffi ins Telefon. 

„Ich weiß eben, dass du dich mehr um ihn sorgst als um dich selbst." Sie pausierte und Andreas konnte ihr Augenrollen förmlich durch den Hörer hindurchsehen. "Und jetzt geh und sprich nochmal mit ihm, ja?"

Andreas lächelte, die Vorfreude auf Steffi und die Kids löste eine wohlige Wärme in seiner Brust aus. Er konnte es kaum erwarten alle wieder in seinen Armen zu halten. „Was würde ich nur ohne dich machen?"

„Genau dasselbe was du gerade machst", antwortete Steffi. „Nur ohne eine Frau und drei kleine Teufel die dir ab und an die Leviten lesen." Dann fügte sie etwas trauriger hinzu. „Und die dich wie verrückt vermissen."

Andreas biss sich auf die Lippen. „Ich vermisse euch auch. Jeden Tag."

„Sag Chris dass wir ihm gute Besserung wünschen. Und pass gut auf ihn auf, okay? Eure Fans werden das verstehen, wenn ihr mal eine Show absagt. Die wollen ja auch nicht, dass euch was passiert."

Andreas nickte. „Mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns morgen. Drück die Kids für mich."

Kaum war das Gespräch zu Ende, schloss Andreas die Augen und fühlte wie sich Schuldgefühle in ihm breit machten. Er hatte versucht seine Frau zu beruhigen, aber tief in seinem Inneren, schlang sich Angst um sein Herz und drückte zu. Fester. Immer fester. 

Er wurde dieses schreckliche Gefühl einfach nicht los... dieses Gefühl, dass er Chris verlieren könnte.

Anders Als Man DenktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt