Hinter verschlossenen Türen

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Am Frühstückstisch kaute Dani müde auf seinem Müsli. Er hatte in der Nacht kein Auge mehr zugetan und war erst am frühen Morgen eingeschlafen. Seine Augen drohten ständig zuzufallen und er verwechselte beinahe die Milch mit dem Orangensaft.

"Hast du schlecht geschlafen?", fragte seine Mutter, als sie sich zu ihm an den Tisch setzte, ein Buch in der Hand.

"Mhhm..." Dani nickte. Es war still für eine Weile bevor er den Mund öffnete um etwas zu sagen.

"Mum...?"

"Ja?"

"Wie... nennt man das wenn jemand... auf einmal traurig wird? So ganz plötzlich, obwohl er vorher glücklich war?", fragte er langsam.

"Was? Dani, muss ich mir Sorgen machen?" Bestürzt eilte sie zu ihm und legte eine Hand auf seine Wange. Dani versuchte der Berührung auszuweichen, doch seine Mutter war beharrlich.

"N-Nein, es ist... Es ist Tygran. Ich glaube, es geht ihm nicht gut", gab er zu.

"Wirklich? Wie kommst du darauf? Ist ihm etwas passiert?" Sie sah ihm in die Augen.

"Ja, er... er hat Angst vor irgendetwas. Er sagt seine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, aber ich weiß, dass das nicht stimmt!" Dani blickte hilflos auf den Tisch, die Hände zu Fäusten geballt.

"Langsam, Dani. Was genau hat er? Ist es etwas Ernstes?", fragte seine Mutter ruhig und platzierte behutsam ihre Hand auf seine.

"E-Er weint im Schlaf und wenn er aufwacht, hört er Stimmen. Aber es passt alles nicht zusammen! Er ist sonst so... Er lacht viel und ist glücklich. Aber dann, auf einmal..."

"Also eine Psychose?", schlussfolgerte sie und Dani sah sie hilflos an.

"Was ist das?" Er schluckte schwer.

"Naja, wie du es beschrieben hast. Er hört Stimmen und sieht vielleicht Dinge, die sonst niemand sieht. Aber wenn du meinst, dass das nur manchmal vorkommt, handelt es sich wohl um Schübe."

"Was bedeutet das genau??" Danis Hand verkrampfte sich an der Tischkante. Seine Mutter seufzte leise bevor sie ihn mitleidig ansah.

"Eine Psychose ist eine schwere psychische Störung, Dani. Wenn es wirklich das ist, was Tygran hat, braucht er unbedingt Hilfe."

"Was passiert, wenn ihm niemand hilft...?"

"Irgendwann lässt sich eine Psychose nicht mehr heilen. Wenn Tygran keine Hilfe bekommt, wird er irgendwann den Bezug zur Realität verlieren. Im schlimmsten Fall entwickelt sich der Krankheitsverlauf zu einer Schizophrenie", antwortete sie leise. Dani konnte nicht antworten. Er hätte Tygran gestern Nacht aufhalten müssen.

"Hat er sonst noch irgendwelche Symptome? Unkontrollierte Wutausbrüche oder Tobsuchtanfälle? Opfer von Psychosen werden leicht gewalttätig."

"Nein..." Dani schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht erinnern, dass Tygran jemals einer Fliege etwas zuleide getan hatte. An der Schule hatte er sich noch nie mit jemandem gestritten und dennoch... Er erinnerte sich an letzte Nacht, wie er Dani auf einmal gepackt hatte. Und die Woche zuvor in der Villa. Die Hand an seiner Kehle...

"Wie kann er wieder gesund werden?", fragte Dani, der Kloß in seinem Hals wurde schwerer.

"Das Ganze unbehandelt zu lassen geht auf gar keinen Fall. Am besten du schickst ihn mal zu mir, dann muss er sich auch keine Sorgen um Geld machen. Und Dani, es ist ganz wichtig, wie du dich in seiner Gegenwart verhältst. Wenn er einen psychotischen Schub durchlebt, kann es kurzzeitig zu einer Persönlichkeitsstörung kommen."
Dani nickte. Genau wie gestern Nacht... Er hatte Tygran kaum wiedererkannt.

"Was soll ich dann machen?"

"Hör zu, Dani", seine Mutter lächelte ihn an.

"Ich bin stolz auf dich, dass du Tygran helfen möchtest, aber das wird nicht immer einfach sein. Es ist zwar von Patient zu Patient unterschiedlich, aber ein paar Sachen solltest du dir merken. Es ist schwer, sich davon nicht beeinflussen zu lassen, aber du musst selber ruhig bleiben. Gib Tygran das Gefühl, dass er nicht allein ist. Sprich nicht zu laut und mach keine hektischen Bewegungen. Ich weiß, dass das für dich komisch klingt, aber es würde auch helfen, wenn du einfach seine Hand hältst und wartest bis er sich beruhigt. Und ganz wichtig, alles was er hört oder sogar sieht ist für ihn real. Du darfst auf keinen Fall anfangen bei so etwas auf ihn einzureden. Ansonsten wird es nicht einfach sein ihn dazu zu bringen, dir zu vertrauen."

"Das klingt... alles so schlimm..." Dani schloss für einen Moment seine Augen. Ging es Tygran wirklich so schlecht. War alles andere, sein Lachen, nur eine Maske...? Er konnte es nicht glauben.

"Ich weiß, Dani. Und es tut mir leid, dass du damit umgehen musst." Seine Mutter nahm ihn in den Arm, während Dani nur still da saß.

"Ich muss zu ihm..."

"In Ordnung", lächelte sie und ließ ihn los.

"Warte noch, Dani!"
Sie stoppte ihn bevor er ohne weiteres durch die Haustür verschwinden konnte.

"Du sagtest er lebt bei seinem Onkel?"

"Ja", antwortete er.

"Kümmert er sich um Tygran? Er muss doch wissen, wie es ihm geht."
Dani blickte wütend zu Boden.

"Der kümmert sich einen Scheißdreck...", zischte er und presste seine Lippen zusammen.

"Dann pass gut auf Tygran auf", seufzte seine Mutter leise und wuschelte ihm durch die Haare bevor er die Tür hinter sich schloss.

Er kannte den Weg zur Villa von letzter Woche. Sein Herz sprang vor Angst und Aufregung als er sich auf sein Fahrrad setzte und so schnell es ging losradelte. Wie würde Tygran reagieren, wenn er Dani sah? Wenn er eine Persönlichkeitsstörung gehabt hatte, würde er jetzt anders sein...? Der Weg zur Villa kam Dani ewig lang vor, hoffentlich ging es ihm gut...

Er ließ sein Fahrrad auf dem Kiesweg vor dem Haupteingang fallen und sah sich um. Tygran war nirgends auf dem Hof zu sehen, er musste drinnen sein. Entschlossen klopfte Dani an der Tür, darauf hoffend, dass Tygran ihm öffnen würde.
Aber es war nicht Tygran, der die Tür entriegelte. Stattdessen starrte Dani in das versteinerte Gesicht seines Onkels. Seine kalten Augen musterten ihn und er würde die Tür gleich wieder zuschlagen, sollte Dani nicht anfangen zu reden.

"Wo ist Tygran? Ich will zu ihm!", sagte er und richtete sich zu voller Größe auf.

"Он не твое дело."

"Lassen Sie mich durch, ich muss zu ihm!", rief Dani etwas lauter. Wenn dieser blöde Idiot dachte, er würde ihn mit seinem russischen Gebrüll verscheuchen, hatte er sich geschnitten.

"Tygran ist nicht hier."
Dani hätte die Worte durch den brüchigen Akzent beinahe nicht verstanden.

"Wo ist er dann? Wo ist er??", rief er aufgewühlt. Wenn das so weiter ging würde er ihn einfach beiseite schieben und selbst nach Tygran suchen. Er streckte sich und versuchte über den Mann hinweg in den Flur zu spähen. Doch keine Spur von Tygran.

"Gehen Sie zur Seite! Ich weiß, dass er hier ist!!" Wutentbrannt machte er einen Schritt auf ihn zu.

"Verschwinde oder ich rufe die Polizei", warnte der Mann ihn leise, seine Augen zusammenkneifend.

"Ich rufe die Polizei wenn Sie ihn weiter behandeln wie Dreck!"

"Verschwinde sofort!", zischte Tygrans Onkel.

"Nein! Es geht Tygran nicht gut, er braucht Hilfe!", rief Dani verzweifelt.

"Er braucht keine Hilfe. Von niemandem. Und von nun an solltest du dich von ihm fern halten."

"Niemals!", brüllte Dani.

"Das werden wir sehen." Und er schlug Dani die Tür vor der Nase zu.

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