Die Liste

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Dani hatte es im Leben eigentlich noch nie schwer gehabt. Die Schule war ihm egal, alles andere flog ihm einfach zu. Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt wie jetzt. Er wollte Tygran helfen, ihn aus seinem Trauma retten. Und als wäre das nicht anspruchsvoll genug, war der Grund, warum er sich so viel Mühe um ihn machte, ein ganz anderer.

Für den Rest des Tages lag Dani auf seinem Bett und starrte die Decke an. Hatte er wirklich... Gefühle für Tygran? Es klang so absurd... Dani war schließlich nicht schwul, oder doch?! Nein, Blödsinn... Wenn er alle möglichen Klischees über Schwule in seinem Kopf aufzählte, traf kein einziges auch nur ansatzweise auf ihn zu, nicht einmal, dass er den männlichen Körper attraktiv fand. Tygran war einfach nur eine Ausnahme!

Aber vielleicht war es nicht ganz richtig, sich an den Vorurteilen zu orientieren. Oder ging etwas in seinem Kopf gerade gewaltig schief?
War es wirklich so schlimm schwul zu sein?
Ja, beantwortete Dani sich die Frage sofort. In einer Großstadt wäre es vielleicht anders gewesen, aber hier... Er war sich ziemlich sicher, dass es an seiner Schule kein einziges homosexuelles Paar gab. Und wenn die Leute herausfanden, dass er auf Tygran stand...
Würden sie ihn für erbärmlich und jämmerlich halten? Ihn auslachen und Schwuchtel nennen? Wenigstens hätte er dann ein paar mehr Gründe sich mit jemandem zu prügeln... Aber  was würden alle anderen über ihn denken? Auf jeden Fall würde kein einziges Mädchen ihn mehr ansprechen.

Dani stöhnte laut auf und verbarg sein Gesicht unter seinen Armen. Er musste ja nicht rausbrüllen, dass er vielleicht schwul war, mit Betonung auf vielleicht. Und wahrscheinlich war er das auch gar nicht! Er war heterosexuell und fand Tygran attraktiv, sonst niemanden. Das konnte Dani gerade noch so mit seinem Gewissen vereinbaren.

Stöhnend stand er auf und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er brauchte ein wenig Klarheit in der Sache, und was würde Sam ihm empfehlen?
Mach eine Liste von den Dingen, die du an ihm magst und nicht magst, dann wirst du ja sehen...
Die Idee hätte wirklich von ihr sein können, Dani sah sie vor seinem innerem Auge zwinkern...

"Also schön...", grummelte er und schnappte sich einen Stift und Papier. Nach einer halben Stunde hatte er eine Seite komplett vollgekritzelt, größtenteils mit wieder durchgestrichenen Sätzen, die ihm dann doch zu unangenehm gewesen waren. Dani musste sich eingestehen, dass er bei manchen negativen Aspekten wohl nicht ganz ehrlich gewesen war, weswegen diese deutlich zu überwiegen schienen...
Auf der positiven Seite stand schließlich nur:

- endlich ein würdiger Rivale

Die Kontra-Seite lag hingegen deutlich vorne:

- isst alles, was ihm unter die Nase kommt
- zu nett zu irgendwelchen Leuten
- lächelt zu viel
- blöder Unschuldsengel
- Trottel
- er riecht zu gut
- er ist zu groß
- kann ganz schön zuschlagen
- hört auf seinen beknackten Onkel, der in die Anstalt gehört
- seine Hände sind zu warm
- seine Augen sind irritierend
- hat keine Ahnung von Sex
- küsst höchstwahrscheinlich grottig
- würde jemanden bestimmt im Schlaf zerquetschen
- bricht Leuten wahrscheinlich die Wirbelsäule, sollte er sie umarmen
- sein Akzent ist alles andere als sexy (scheint aber bei Mädchen warum auch immer zu funktionieren)
- seine Stimme ist zu tief
- Vielfraß
- lügt ständig
- braucht Hilfe
- braucht meine Hilfe
- ich muss ihn retten
- ich will ihn umarmen
- ich muss auf ihn aufpassen
- ich will ihn küssen

Verdammt... Das würde selbst Sam nicht mehr in Pro und Kontra unterteilen können. Es war einfach eine Liste, die er am besten mit der Überschrift Gründe, warum ich Tygran ins Bett bekommen sollte betitelte... Dani schüttelte den Kopf, er war wirklich erbärmlich.

Aber es war selbstsüchtig, sich im Moment nur um sich selbst Sorgen zu machen. Es ging Tygran schließlich Scheiße und egal ob Dani jetzt mit seinen Gefühlen klar kam oder nicht, er musste ihn aus der ganzen Situation herausziehen. Was er fühlte, war jetzt zweitrangig, denn es waren noch längst nicht alle Fragen beantwortet.

Woher hatte Tygran das Veilchen, wenn es nicht mal jemand schaffte ihm ins Gesicht zu schlagen? Was, wenn er sich selber wehtat...? Dani zuckte bei dem Gedanken zusammen. Tygran hatte sich schließlich selbst die Hand gebrochen, als müsste er sich für irgendetwas bestrafen. Er wunderte sich, wenn Tygran tatsächlich als Kind in einem Bürgerkrieg beteiligt gewesen war... gezwungen wurde zum Kämpfen... Hatte er Leute erschossen? Musste er jemanden töten...?
Und was war mit seinen Eltern passiert? Wer zum Teufel hatte ihm den halben Rücken aufgeschlitzt?!

"Verdammt..." Dani knirschte mit den Zähnen. Das konnte so nicht weitergehen.

Spätestens einen Tag nach der Rückgabe der nächsten Klausur, wusste Dani, woher Tygran das blaue Auge hatte. Mit einem Blick auf seine Arbeit hatte Dani ein Ergebnis von fünf Notenpunkten erspähen können. Tygran hatte total fertig ausgesehen und am nächsten Morgen schien sein Veilchen noch einmal aufgefrischt worden zu sein.

Allerdings sprach niemand ihn darauf an, und niemand sonst schien sich große Sorgen um ihn zu machen. Wenn man Tygran nicht kannte, würde man aufgrund seiner Statur und Größe annehmen, er wäre ein Schläger. Das dem nicht so war und dass eigentlich niemand Tygran das Wasser reichen konnte, wusste nur Dani. Wäre er vielleicht ein kleiner, dünner Junge gewesen, hätten ihn die Lehrer wohl bereits auf das blaue Augen angesprochen.

Aber so erkannte niemand, dass Tygran geschlagen wurde. Und dessen war sich Dani sicher. Anders konnte er es sich nicht erklären, Tygran schrieb eine Klausur, die für seinen Onkel nicht gut genug war und dafür schlug er ihn. Dani erinnerte sich auf einmal an den schweren Gürtel, der über der Stuhllehne im Büro seines Onkels gehangen hatte...

Es war schon schlimm genug, dass Tygran unter Psychose litt, aber sein Onkel schien alles nur noch zum Schlechteren zu wenden. Es gab niemanden, der ihm half und Dani musste das ändern.

Und er sollte seine Chance bekommen. Am Freitag war Dani mit dem Fahrrad auf dem Weg in den Ort, da seine Mutter ihn gebeten hatte, einkaufen zu gehen. Obwohl es ein Umweg war, fuhr Dani aus Prinzip an der Villa vorbei. Die letzten Tage hatte er Tygran nur aus der Entfernung gesehen, wie er trotz seiner gebrochenen Hand weiter Heuballen stapelte und die Zuchtpferde auf die Koppel führte. Doch heute konnte er ihn nirgends erblicken. Schweren Herzens fuhr Dani weiter, nur um nach knapp hundert Metern eine große Silhouette zu erkennen, die gegen einen Baumstamm am Wegrand lehnte.

"Tygran!" Sofort ließ Dani sein Fahrrad zur Seite fallen, um nach ihm zu sehen. Als er näher kam, bemerkte er, dass seine Augen geschlossen waren und sich eine lange Schramme über seinen linken Wangenknochen zog. Dani kniete sich bestürzt neben ihn hin, nur um festzustellen, dass Tygran nicht etwa bewusstlos war. Er schlief... beinahe friedlich sogar. Sein Kopf war nach unten gesackt, sein Mund stand leicht offen und er atmete ruhig. Ein paar rote Haarsträhnen verfingen sich in seinen Wimpern und für einen Moment konnte Dani ihn nur anstarren. Er war so... schön...
Tygrans Hände lagen in seinem Schoß und seine Brust hob und senkte sich leicht mit jedem Atemzug.

Ohne weiter darüber nachzudenken ließ Dani sich vorsichtig neben ihm nieder. Es war kalt und Tygran war im T-Shirt, trotzdem konnte Dani seine Körperwärme spüren, als sich ihre Arme berührten. Es musste ungemütlich sein gegen einen Baum gelehnt zu schlafen, er fragte sich was ihn hierher verschlagen hatte. Eher unbewusst schlang Dani seine Arme um den großen Körper und hievte ihn leicht zur Seite, sodass Tygrans Kopf auf seiner Brust lag. Leise lächelnd streichelte er sein zerzaustes Haar und lauschte seinem regelmäßigen Herzschlag.

Dani hatte keine Ahnung was er da gerade tat, schließlich konnte Tygran jeden Moment aufwachen. Doch es fühlte sich so richtig an. Behutsam strich er ihm die Haare aus der Stirn und streichelte seine Wange. In Danis Magen explodierte ein Schwarm Schmetterlinge, er wollte ihn am liebsten nie wieder loslassen. Sorgsam platzierte er Tygrans verbundene Hand in seine. Dieser starke Körper in seinen Armen, der doch so hilflos und verletzlich schien... Es war Danis Aufgabe ihn zu beschützen. Und egal ob Tygran jetzt aufwachte, Dani würde ihn nicht loslassen.

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