Kapitel 35

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Zu beschließen, Tyler zu entführen ist eine Sache, es dann wirklich zu tun, die andere. Schon seit Tagen fahren wir in der Nähe von Thymons altem Haus herum und suchen nach Hinweisen, wo er wohnen könnte. Aber er scheint so gut wie nie irgendwo in der Öffentlichkeit zu sein.

Doch gestern kam mir eine Idee. Ich kann mich noch ein Tattoo erinnern, das Tyler am Hals hatte. Ein kleines fuck, rechts neben seinem Kehlkopf. In Ponville gibt es natürlich ein paar Tattoo Studios, aber nur ein ganz Bestimmtes hat die angeles negros als Kunden. Und Tyler ist oder war ein Mitglied dieser Gang. 

Also parkt Lukes altes Auto am Samstagnachmittag vor Joe's Drinks and Tattoos, mit Luke, Kai, Lu und mir im Schlepptau.

„Und ihr glaubt wirklich, dass sie uns einfach Tylers ganzen Namen und Wohnort verraten werden?", fragt Lu und schielt zögerlich auf das heruntergekommene Gebäude. Autos parken fast keine auf dem rissigen Asphalt, dafür aber eine ganze Menge Motorräder.

„Das wäre vermutlich zu schön um wahr zu sein. Aber wir haben keine andere Wahl, es ist unsere einzige Spur.", gibt ihr Kai zur Antwort und betrachtet ebenfalls das Studio. Sein Blick ist aber im Gegensatz zu uns schon beinahe gleichgültig.

Wochenlang hat sich Kai passiver und gereizter als sonst verhalten, wie mir jetzt im Nachhinein auffällt. Seit wir aber die Idee mit Tyler hatten, ist er wieder ausgeglichen und motiviert. Es stört mich, dass ich nicht immer für ihn da war. Wahrscheinlich hätte er es genau so dringend wie wir anderen auch gebraucht. Deshalb nehme ich mir nun vor, ab jetzt immer für ihn da zu sein, damit er so etwas nie wieder alleine durchstehen muss.

„Also, wer kommt mit rein?", fragt er weiter und sieht uns abwartend an. Lu schüttelt energisch den Kopf. Luke und ich wechseln vielsagende Blicke, die so viel wie Wenn du gehst, geh' ich auch bedeuten. Schlussendlich drehen wir uns wieder zu Kai und nicken beide.

„Passt auf euch auf!", ruft uns Lu noch nach, als wir die Tür zuknallen und einigermaßen selbstbewusst das Studio betreten. Drinnen ist die Luft stickig, der Rauch von Zigaretten und wahrscheinlich auch Joints liegt in der Luft. Im Hintergrund spielt alte Rock Musik, die mir eigentlich gut gefällt. Links von uns ist eine kleine Bar, an der ein paar Leute sitzen, rechts das eigentliche Studio. In einer Ecke schläft ein alter Husky und ich muss zu Luke schauen: So einen hat er sich selbst immer gewünscht, aber keinen bekommen.

Luke und ich folgen Kai, der selbstsicher auf die Bar zugeht und sich leicht räuspert, um die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu bekommen. Dieser poliert noch sein Glas zu Ende, räumt es weg und dreht sich dann erst zu uns um. Als er uns sieht, hebt er kritisch eine Augenbraue und kommt auf uns zu.

„Was wollt ihr denn hier? Ich verkaufe nicht an Minderjährige."

„Erstens glaubst du das doch selbst nicht, zweitens sind wir nicht deshalb hier.", meint Kai darauf unbeeindruckt. Der Barkeeper reagiert zuerst gar nicht, sondern wischt mit einem Lappen über die Theke. Erst irgendwann fragt er:

„Und wieso dann?"

„Wir suchen nach jemanden, er war wahrscheinlich hier Kunde."

Der alte Mann hält in der Bewegung inne und sieht uns zum ersten Mal genauer an. Dann sagt er trocken:

„Aha?"

Kai dreht sich zu mir um und wirft mir einen Blick zu, der so viel wie Dein Einsatz bedeutet. Ich trete vor und deute auf meinen Hals:

„Er hat sich hier ein Tattoo stechen lassen. Das Motiv war das Wort Fuck. Kommt er Ihnen bekannt vor?"

Für einen Moment sieht er mich ungläubig an, dann lacht er rau:

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