Kapitel 28

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Als ich am nächsten Morgen aufwache, weiß ich zuerst gar nicht, wieso ich so niedergeschlagen bin. Erst nach ein paar Sekunden fallen mir die ganzen Ereignisse von den letzten Tagen ein und ich drücke meinen Kopf in mein Kissen.

Ich will heute nicht in die Schule, ich will meine Eltern nicht mehr sehen und am wenigsten will ich den nächsten Brief bekommen. Trotzdem schaffe ich es, mich nach einigen unentschlossenen Minuten aus dem Bett zu kämpfen. Wenn ich jetzt aufgebe, haben Taylor und der Erpresser gewonnen. Und ich werde sie um jeden Preis verlieren lassen.

Bei dem Gedanke an Tyler werde ich noch wütender als auf den Erpresser. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber es ist mir auch egal.

Niedergeschlagen tapse ich ins Bad und versuche das Monster zu bändigen, das mir vom Spiegel entgegen schaut. Während ich mehrmals eiskaltes Wasser in mein Gesicht spritze, überlege ich, weshalb ich Tyler so viel schlimmer finde.

Es könnte daran liegen, dass ich ihn inzwischen besser kenne, ich habe ein Gesicht zu ihm. Ich weiß, wie seine kalten Augen funkeln und wie sein dreckiges Lachen klingt. Ich kenne die Art, wie er seine Mundwinkel nach oben zieht, wenn er kurz davor ist, etwas unfassbar Schlimmes zu tun. Es ist leichter, einen bekannten Mensch zu hassen, als einen unbekannten Briefverfasser.

Irgendwann gebe ich auf und akzeptiere, dass mein Äußeres heute wohl mein Inneres wiederspiegelt. Meine dunklen Haare binde ich mir zu einem einfachen Pferdeschwanz, obwohl ich sie sonst immer offen trage. Der Himmel draußen ist heute eintönig grau, offenbar hat die Sonne genau so wenig Lust wie ich auf den heutigen Tag. Ich entscheide mich für einen beigen Hoodie und eine enge, schwarze Jeans, dann gehe ich hinunter.

Meine Mutter ist zum Glück schon in der Arbeit und Dad schläft noch, also kann ich mir ohne unangenehme Zwischenfälle einen Apfel aus dem Obstkorb nehmen und in die Schule fahren.

Viele würden wahrscheinlich sagen, dass ich gestern übertrieben habe und es viel schlimmere Streite mit Eltern gibt. Mum hat mich gestern jedoch in einem der schwächsten Momente in meinem bisherigen Leben überrumpelt und ich konnte nicht anders, als mich deshalb noch einmal schlechter zu fühlen.

In der Highschool angekommen laufe ich schnell zu meinem Spind und schnappe mir die Bücher für die erste Stunde. Wie gewohnt suchen meine Augen das Fach nach versteckten Nachrichten ab und ich kann erleichtert aufatmen, als dort kein Zettel liegt. Wenigstens etwas.

Unmotiviert schleppe ich mich in den ersten Kurs. Als ich schon fast das Klassenzimmer erreicht habe, fällt mir Luke auf, der sich an eine Wand lehnt und mit einem rothaarigen Mädchen in unserem Jahrgang spricht. Mein Blick bleibt wohl zu lange an ihnen hängen, denn mein bester Freund sieht mich.

Seine Miene hellt sich auf und er stößt sich locker von der Wand ab, um zu mir zu kommen. Die Rothaarige schaut ihm aufgebracht nach und wirft mir den wohl giftigsten Blick zu, den ich je gesehen habe.
Trotzdem freut sich ein kleiner Teil in mir darüber, dass Luke sie einfach für mich stehen lassen hat. Dieser Gedanke verfliegt aber sofort, als er mich erreicht hat und besorgt die Stirn runzelt:

„Alles okay?"

„Ja.... Naja... Den Umständen entsprechend.", gebe ich schließlich zu. Er nickt verstehend und hält mir die Tür in das Klassenzimmer auf.
„Und wie geht's dir?", frage ich weiter, als wir uns auf die Stühle setzen.

„Den Umständen entsprechend." Ein gezwungenes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Wir haben jetzt Geschichte, also packe ich mein Buch aus und verschönere Abraham Lincoln mit meinem schwarzen Kulli.

Für eine Weile schweigen wir uns an, bis die Lehrerin kommt und ich seufzend den Kugelschreiber wieder weglege.

„Hast du Kai oder Lu heute schon gesehen?", fragt Luke und ignoriert dabei komplett das Gerede von Mrs Smith. Ich schüttle abwesend den Kopf, während ich gedankenverloren auf die Tafel starre.

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