Mühsam stemme ich mich von dem winzigen Stuhl nach oben, auf dem ich während des Morgenkreises gesessen habe. Für gewöhnlich mag ich die Kleinkinderstühle ja, denn dank der angezogenen Knie kann man bei Müdigkeit ganz herrlich seinen Kopf darauf betten, doch heute ist das anders. Heute brennen und schmerzen meine Muskeln, weshalb das Aufstehen genauso eine Qual wie das Hinsitzen ist.
"Bilde ich mir das nur ein oder bist du über Nacht um zwanzig Jahre gealtert, Jenny?", fragt meine Kollegin Bruni belustigt.
Obwohl die bereits ergraute Pädagogin nur noch wenige Jahre von ihrer wohlverdienten Rente entfernt ist, könnte ich mich mit ihr nicht besser verstehen. Auch wenn der Lauf der Zeit durchaus Spuren auf ihrem runden Gesicht hinterlassen hat, ist sie im Geiste jung geblieben und immer für einen Spaß zu haben. Sehr zum Leidwesen unserer Gruppenleiterin Susanne - die beiden sind zwar für gewöhnlich regelrechte Engel, aber genauso gut können sie sich in den Teambesprechungen fetzen. Burnhildes Temperament hat in den letzten 62 Jahren niemand gezähmt und so würde es Susanne in ihren letzten Tagen auch nicht mehr schaffen - der Meinung ist zumindest Bruni selbst.
Ich verdrehe gequält die Augen und lasse mir von Carmen aufhelfen. Mit einem Stöhnen erwidere ich: "Ich habe Sport gemacht okay? Verurteilt mich nicht dafür!"
Gespielt schmollend schiebe ich die Unterlippe nach vorn und blicke meine Kolleginnen vorwurfsvoll an. Obwohl ich die jüngste im Team - abgesehen von unserer FSJlerin - bin, verstehe ich mich mit allen blendend. Natürlich mag ich manche Kolleginnen mehr als andere, aber das ist überall so. Ich komme mit allen gut zurecht und habe mit niemandem Klinch, das ist das Wichtigste.
"Ich hab gestern auch Sport gemacht!", mischt sich Emma ein und drückt sich an Carmen vorbei. Die hellbraunen Haare der Vierjährigen stehen in zwei niedlichen Seitenzöpfchen vom Kopf ab und zumindest ein Teil ihres Pony wird mit einer Schmetterlingsprange zurückgehalten.
"Ach wirklich?", fragt Bruni nach und zieht die Augenbrauen nach oben. Ich kann erkennen, dass sie unter ihrer roten Alltagsmaske die Nase kraus zieht und damit ihren typischen skeptischen Blick aufsetzt. Das macht sie immer, wenn sie die Kinder etwas ärgern will. "Was hast du denn an für einen Sport gemacht?"
Interessiert blicke auch ich zu Emma nach unten, während Carmen amüsiert grinsend den Rückzug antritt und dem lauten Rufen aus der Bauecke folgt. Schon in der achten Klasse wusste ich, dass Erzieherin genau mein Beruf ist. Auch wenn das Gehalt durchaus besser sein könnte, stand für mich nach meinem sozialen Praktikum außer Frage, jemals einen anderen Beruf ausüben zu wollen.
Allerdings ist so ziemlich genau das auch der Punkt, warum ich mit meinen 21 Jahren noch zu Hause wohne. Obwohl das an sich ja keine Schande ist. Ich kann mich noch gut erinnern, wie meine Freundinnen und ich davon geträumt haben, direkt nach dem Abitur beziehungsweise der Ausbildung auszuziehen. Die wenigsten von uns haben es wirklich durchgezogen und die, die tatsächlich das Elternhaus verlassen haben, sind zum Studieren aus der Stadt verschwunden.
DU LIEST GERADE
Polarlicht [ III - 2020 ]
Teen Fiction"Hat die Hexe ihr Geschäft verrichtet?" "Der Kaffee macht dich auch nicht hübscher, Shrek." "Besser Shrek als Pumuckl, du Feuermelder." "Halt einfach die Klappe und fahr!" ∞ Jenny und Nick. Nick und Jenny. Eine Hass-Liebe, die nicht einmal sie selbs...