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Ein Nachtmahr von Schnee und Eis

Der Wind sauste gnadenlos über das schroffe Gebirge hinweg, peitschte Eiskristalle durch die Luft, die wie Nadelstiche brannten, wo immer sie auf nackte Haut trafen. Im ersten Moment war alles, was er sehen konnte eine weiße Wand. Dann pfiff der Wind weiter und enthüllte für einen Moment die Aussicht auf das vom Sturm heimgesuchte Gebirge.

Dunkle Stimmen hingen in der Luft, sangen von Tod und Verderben. Eine Stimme von weiter vorne ließ Boromir aufblicken. Diese klang näher und als der Mann den Kopf hob, erblickte er Mithrandir. Der alte Zauberer stemmte sich gegen den Sturm und rief Beschwörungen in den Wind, die ihm fast augenblicklich von den Lippen gerissen wurden.

Boromir zitterte vor Kälte und seine Finger waren ganz taub, trotz der dicken Handschuhe. Den kleinen Gestalten neben ihm erging es jedoch noch schlimmer. Ihre Gesichter waren von der Kälte und den beißenden Schneekristallen gerötet, während sich ihre Lippen blau verfärbt hatten. Allein der Blick auf die bloßen Füße im Schnee schmerzte den Menschen schon.

Ein Blitz schlug direkt über ihren Köpfen ein. Ein lautes Krachen erklang, als der Felsbarst und mit erschrocken aufgerissenen Augen sah Boromir, wie ein ganzes Stück des Berges abbrach. Geröll stürzten auf sie hinab, eine Schneelawine löste sich, raste ebenfalls in die Tiefe.

Geistesgegenwärtig griff der Mann nach den Kindern und presste sie so fest, wie die kalten Muskeln es vermochten, gegen seine Brust, während er sich gegen die Felswand warf. Seine Schulter durchzuckte ein heller Schmerz, Boromir schluckte Schnee, spürte, wie die unerträgliche Kälte seinen Mund füllte und schwer auf seine Brust drückte. Hinter seinen Augenliedern begann ein Gleißen, dann wurde alles weiß.

Hustend und würgend kam der Mann zu sich. Eine Hand um seinen Hals geklammert, an dem er noch immer die Kälte des Schnees zu spüren glaubte, schnellte er hoch und blickte sich verwirrt um.

Es dauerte einen Moment, bis die vertrauten Umrisse des Zimmers ihm im sanften Licht des erlöschenden Kaminfeuers wieder bekannt vorkamen.

Erleichtert aufseufzend ließ Boromir sich wieder zurück in die Kissen sinken. Es war alles gut, er war Zuhause in seinem eigenen Zimmer. Hier war kein Schnee, keine alles verschlingende Kälte, keine Kinder. Zumindest hoffte er, dass sie in dieser Nacht keines gezeugt hatten, überlegte Boromir, als er sich in die Wärme der Frau schmiegte. Seine Gespielin hatte von dem Alptraum überhaupt nichts mitbekommen und schlief noch immer friedlich.

Ein Blick zum Fenster verriet dem Mann, dass ihm noch einige ebenso friedliche Stunden Schlaf bevor stehen konnten. Mit einem Gähnen rückte er noch näher an die schlafende Schönheit, zog die Decke bis an sein bärtiges Kinn und war bereits fast wieder eingeschlafen.

„Welch unsinniger Traum! Wer ist auch so töricht, im Winter ein Gebirge überqueren zu wollen, zumal noch bei Sturm? Ich würde sowas jedenfalls niemals machen", dachte Boromir verächtlich und entschwand bereits ins Reich der Träume.

Die Erinnerung an den Nachtmahr war dem Sohn des Truchsesses am nächsten Morgen bereits wieder entschwunden, ein dunkler Schatten ohne Bedeutung.

Jahre später jedoch, als Boromir sich an der Seiteseiner acht Gefährten durch das Schneegestöber am Passe des Carathras kämpfte,erschien es ihm, als hätte er dies alles bereits einmal erlebt.



geschrieben von RonjaAlsters

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