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Bettelarm

Der Zug der vertriebenen Zwerge arbeitete sich mühsam durch die verschneite Landschaft. Hoher Schnee, einem ausgewachsenen Zwerg manchmal bis über die Hüfte reichend, erschwerte das Vorankommen. Eiskalter Wind blies ihnen entgegen, wirbelte Eiskristalle umher, die wie kleine Nadeln in die ungeschützte Haut stachen. Bald waren Haare, Bärte und Kleidung eisverkrustet. Die Kälte kroch unter die Kleidung, die bei vielen der Flüchtlinge von minderer Qualität war und kaum wärmte. Schnee durchfeuchtete Schuhe, Hosen und Röcke.

Seit einigen Tagen kämpften die Zwerge sich nun durch die hügeligen Lande Rohans. Schnee und Kälte forderten ihren Tribut. Dutzende waren an Fieber erkrankt und manche der Alten und Kinder bereits verstorben. Kaum Hoffnung bestand, dass viele von ihnen den Frühling erleben würden.

Thorin stapfte verbissen weiter, die Hoffnungslosigkeit und den Hunger ignorierend. Verzweiflung war sein ständiger Begleiter, seit Smaug vor Monaten den Erebor angegriffen hatte und sie aus ihrem Heim vertrieb. Doch nicht um sich sorgte er sich. Sein Volk litt. Stoisch und auf eine bessere Zukunft hoffend, folgten die Zwerge ihrem König, Thror, seinem Großvater.

Schweiß rann über seine Stirn, als der junge Zwergenprinz sich einen Hügel hinauf kämpfte, eine möglichst breite Schneise für die anderen hinterlassend. Keuchend blieb Thorin stehen und blickte auf die kläglichen Überreste des einst stolzen Volkes vom einsamen Berg zurück. Der Drache hatte aus ihnen allen Bettler gemacht. Hinter ihm liefen Adelige, Minenarbeiter, Handwerker, Schmiede, Steinmetze und Kaufleute, vereint in ihrer Verzweiflung und Heimatlosigkeit. Sie stolperten mehr durch den Schnee, als dass sie liefen, gegen Hunger und Krankheit ankämpfend, die wenigsten von ihnen passend für das Wetter gekleidet.

Mit verschränkten Armen sah er wieder nach vorne, nach Westen, wohin er auf Geheiß Thrors die Zwerge führen sollte. Thror indes war mit seinem Sohn Thrain und Thorins Bruder Frerin aufgebrochen, die Umgebung zu erkunden und einen Unterschlupf für die Zwerge zu suchen. Die Führung des Volkes hatte er seinen Enkeln Thorin und Dís überlassen.

Thorin drehte sich wieder dem Volk zu und suchte nach seiner Schwester. Recht schnell hatte er die junge Zwergin gefunden. Sie lief bei einem der wenigen Karren, die sie bei sich hatten und auf dem eine Gruppe Zwerglinge frierend unter ein paar zerschlissenen Decken kauerten.

Sie hob den Blick, sah ihn und kam, so schnell es der hohe Schnee erlaubte, auf ihn zu. Lächelnd beobachtete Thorin seine Schwester, die als einzige von Thrains Kindern das helle Haar ihrer Mutter geerbt hatte. Ihre leuchtend blauen Augen, denen Thorins sehr ähnlich, erwiderten aufmerksam seinen Blick. Die Wangen gerötet von der Kälte stellte sie sich neben ihn und sah über die winterliche Landschaft.

„Kein Zeichen von Frerin, Vater und Großvater?", fragte sie ihn. Thorin schüttelte leicht den Kopf. „Wir brauchen Schutz vor dem Wetter", fuhr Dís fort. Ihr Bruder nickte nur grimmig. Dís war noch so jung, fast ein Kind. Nur langsam begann sich der erste Flaum an ihren Wangen zu bilden. Doch die mädchenhaften Züge waren bereits ernst und verhärtet, verändert von den entbehrungsreichen Monaten ihrer Flucht.

Sie holte zitternd Luft. „Weißt du, welcher Tag heute ist?", fragte sie. Thorin schüttelte nur den Kopf. Er hatte vor langem aufgehört, die Tage ihrer Reise zu zählen. „Heute ist das Yulefest", fuhr seine Schwester leise fort.

Thorin schnaubte. Daran dachte er in ihrer momentanen Situation wahrlich am wenigsten. „An sowas denkst du jetzt?", fragte er sie ungläubig. Sie senkte betrübt den Kopf. Doch schließlich hob sie den Blick wieder und sah ihn an, voller Traurigkeit und Sehnsucht. „Es war immer meine liebste Zeit im Jahr...", flüsterte sie mit brechender Stimme.

Sein verärgertes Unverständnis verrauchte so schnell wie es gekommen war. So traurig sah sie aus, dass es ihm das Herz brach. Sie war doch noch ein Mädchen, das viel zu schnell hatte erwachsen werden müssen. Wie gern hätte er sie vor all dem Kummer beschützt. Liebevoll legte er den Arm um sie und küsste sie sachte auf die Stirn.

„Erinnerst du dich?", fragte Dís leise und den Tränen nahe, „Die Winterlandschaft vor dem einsamen Berg, wie verzaubert, unsere Spiele im Schnee, Großvaters Märchen bei einer Tasse Kakao, Kuchen und Kekse, duftend nach fremden Gewürzen, die wir heimlich am Kaminfeuer naschten, das köstliche Essen am Yuleabend und die Geschenke, Thorin?"

Mit einem Kloß im Hals nickte ihr Bruder. „Dieses Jahr werden wir kein Yulefest haben", flüsterte er. „Kein rauschendes Fest mit herrlichem Essen wird es geben. Arm wie Bettler ist unser Volk geworden, keine Mittel für ein Fest haben wir."

„Thorin! Dís!" Die Stimme ihres Vaters riss die beiden Geschwister aus den sehnsüchtigen Erinnerungen.

Ihr Vater tauchte vor ihnen auf, in Begleitung von Thror und Frerin. Ihre Gesichter leuchteten vor Hoffnung. „Wir haben eine kleine Stadt der Rohirrim gefunden. Man ist bereit, uns dort aufzunehmen und uns Zuflucht zu gewähren!", berichtete Frerin voller Freude.

Es war bereits dunkel, als die Zwerge die Stadt erreichten. In Stallungen, Schuppen und Kammern brachte man sie unter. Wenig Platz gab es, aber es war trocken und warm und für die durchgefrorenen Zwerge wie das beste und gemütlichste Gasthaus.

Gierig löffelte Thorin den Eintopf, den man ihnen gebracht hatte. Es schien ihm das köstlichste, das er je gegessen hatte. Sein Körper wärmte auf und endlich entspannte er. Frerin an seiner Seite war bereits eingeschlafen. Mit einem Lächeln dachte er an das Gespräch mit Dís vor wenigen Stunden. Kein Festessen, hatte er gesagt. Und doch, war dies hier mehr Festessen und Anlass zu Freude als so manches Yulefest. Endlich seit vielen Wochen fühlte er wieder Frieden in sich, einen Moment des Glückes und des Innehaltens. Und war dies nicht der wahre Sinn des Yulefestes, mehr noch als Geschenke und Festessen? Für wie wenig man in Armut dankbar war.

Dís stand in der geöffneten Tür. Einen geliehenen Schal um den Kopf geschlungen und die fallenden Flocken beobachtend. Die leere Schüssel neben sich abstellend, ging Thorin zu ihr hin und stellte sich zu seiner Schwester. Sacht legte er einen Arm um sie. Schweigend sahen die Geschwister auf die winterliche Landschaft vor ihnen.

„Ein frohes Yulefest, Dís.", flüsterte Thorin. Seine Schwester sah zu ihm auf und lächelte glücklich. „Frohes Fest, Thorin."

Sie sah wieder in die Nacht und begann, leise zu singen.

„Durch die Stille Nacht ta ram tam tam tam

Da ging ein kleiner Zwerg ta ram tam tam tam

Hielt seine Spielzeugtrommel in der Hand

Zu der Halle, wo sein König stand

Ram tam tam tam, ram tam tam tam

Und die Trommel klangt ta ram tam tam tam

Durch das Land

König unterm Berg ta ram tam tam tam

Bin nur ein armer Zwerg ta ram tam tam tam

Wo lauter Adelige mit Gaben stehen

Läßt man mich vielleicht nicht zu dir gehen

Hab ja kein Gold, Hab ja kein Geld

Kann nur trommeln für dich ta ram tam tam tam

Wenns dir gefällt."*



*Frei nach „Der kleine Trommler"

geschrieben von Varda_92

Mittelerde Adventskalender 2020Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt