Rolltreppen und Rollatoren

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5:30 Uhr.
Mein Wecker piept.
Ich stehe auf und mache mein Bett. Dann gehe ich an meine Kommode und nehme mir eine frische Boxershorts und ein frisches Paar Socken heraus. Auf dem Weg in die Küche halte ich kurz am Badezimmer, schalte das Licht ein und lege meine Sachen auf der kleinen Bank neben dem Lichtschalter ab.

In der Küche drücke ich auf den Knopf der Kaffeemaschine und fülle mir ein Glas mit lauwarmem Wasser. Nachdem ich eine Zitrone ausgepresst und ihren Saft in das Wasser gegeben habe, leere ich das Glas in langen Zügen, bevor ich es ausspüle und in den Geschirrspüler stelle.

Im Badezimmer rolle ich meine Yogamatte aus und mache wie jeden Morgen dreißig Liegestütze und dreißig Sit-Ups, bevor ich die Matte wieder in ihrer Ecke verstaue, mich ausziehe und dusche.

Anschließend gehe ich nur in Boxershorts in die Küche, schenke mir eine Tasse Kaffee ein und begebe mich dann ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Heute wähle ich eine schlichte, dunkelblaue Chinohose, ein T-Shirt, darüber ein einfaches, weißes Hemd.
Ich bereite mir eine Schale mit Haferflocken und Trockenfrüchten vor, gieße einen Schluck Milch dazu und setze mich mit der Schüssel und meiner Kaffeetasse an meinen Esstisch, wo ich beim Frühstücken per App auf meinem Tablet die aktuelle Zeitung lese.

Als es 6:30 Uhr ist, bringe ich meine Tasse und die Schüssel ebenfalls in den Geschirrspüler, putze mir die Zähne und ziehe anschließend meine Socken an, bevor ich mich auf den Weg zur U-Bahn mache. Es sind genau fünf Haltestellen zu meiner Arbeitsstelle und ich nehme immer den Zug um 6:56 Uhr.

Gerade will ich wie viele andere Menschen zur Rolltreppe eilen, die hinab zum Gleis führt, doch dort bildet sich ein kleiner Stau. Menschen drängeln sich genervt und meckernd an der Engstelle vorbei und als ich vom Strom der Masse daran vorbeigespült werde, bemerke ich einen alten Herrn, der offenbar versucht, mit seinem Rollator auf die Rolltreppe zu kommen, dabei jedoch mit der Menge an Menschen überfordert zu sein scheint.

Kurzerhand gehe ich ihm zur Hand, dränge die vorbeieilenden Leute noch weiter weg und drehe sein Gefährt so, dass wir beide gefahrlos auf die sich bewegenden Stufen steigen können.
„Danke", sagt er zu mir und schaut sich aufgeregt um. „Das war sehr freundlich von Ihnen."
„Sehr gern", erwidere ich und gebe Acht, dass ihm das Gefährt nicht aus den zittrigen Händen rutscht.

„Ich bin noch nicht so fit mit diesem Ding", kichert er neben mir.
„Vielleicht sollten Sie beim nächsten Mal den Fahrstuhl nehmen", schlage ich vor, doch er schüttelt lächelnd den Kopf.
„Ich bin seit Jahren keine Rolltreppe mehr gefahren", erzählt er begeistert.

Wir erreichen das untere Ende und ich geleite ihn sicher neben das Geländer, damit uns die nachkommenden Geschäftsleute nicht über den Haufen rennen.
„Wohin müssen Sie?", frage ich ihn, denn ich befürchte, dass er mit seinem Gefährt nur mühsam allein einen Zug besteigen können wird.
„Wieder nach oben", antwortet er und ich sehe ihn verwirrt an.
„Nach oben?"
„Ja", lächelt er. „Ich gehe jeden Tag ein Stückchen weiter. Und jetzt fahre ich wieder nach oben und gehe nach Hause."
„Warum?", frage ich ihn.
„Kleine Veränderungen fallen leichter als Große", ist seine Antwort. „Vielleicht probiere ich es morgen nicht zur Rush Hour, aber Rolltreppe fahre ich auf jeden Fall nochmal."

Damit setzt er sich langsam, Schritt für Schritt, in Bewegung und geht auf die nach oben führende Rolltreppe zu. Da die meisten Menschen eher auf dem Weg in die U-Bahn als wieder hinaus sind, ist diese bedeutend leerer und ich beobachte ihn gebannt, wie er nach einigen Versuchen auf die Stufen geht und dann freudestrahlend nach oben fährt.

Erst als der alte Mann aus meinem Blickfeld verschwunden ist, löse ich mich aus meiner Starre und eile zu meinem Gleis, an dem gerade mein Zug einfährt. Wie jeden Morgen stehe ich zwischen den anderen Menschen, die auf dem Weg zu ihrer täglichen Beschäftigung sind und sehe niemanden an. Stattdessen betrachte ich die Werbung, die über den schmutzigen Fenstern angebracht ist. Meist werben hier Versicherungen, Partnervermittlungen oder Fernuniversitäten.

Genau fünf Haltestellen später steige ich mit vielen anderen Menschen aus. An dieser Haltestelle gibt es zwischen den Rolltreppen auch einen normalen Treppenaufgang und diesen benutze ich bevorzugt. Man kommt schneller voran.

„Guten Morgen, Mr. Granger", begrüße ich den Filialleiter, als ich den Supermarkt betrete.
„Guten Morgen, Harrisson", erwidert dieser und widmet sich wieder dem Dienstplan für die kommende Woche. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und fahre meinen Computer hoch.

Ich bin für den Einkauf zuständig. Wenn Warenbestände zu Ende gehen, bestelle ich diese nach. Heute ist Dienstag und es gibt einiges nachzubestellen, da montags immer eine größere Einkaufswelle nach dem Wochenende herrscht.

11:30 Uhr stehe ich auf, nehme mir mein Buch, das immer in der Schublade meines Schreibtisches liegt und mache mich auf den Weg in den Personalraum. Der Raum ist nur winzig, mit gerade einmal zwei Tischen, aber da ohnehin nicht alle Mitarbeiter gleichzeitig Pause machen können, ist er vermutlich ausreichend.
„Und dann hat sie wohl zu Elisa gesagt, dass ich absichtlich ihre Durchsage ignoriert habe", meckert meine Kollegin Joline einer anderen Kollegin, Marie, zu.
„Im Ernst?", hakt Marie entsetzt nach. „Das muss sie gerade sagen, die ignoriert doch ständig alle Durchsagen, es sei denn, sie soll in die Pause."
„Genau das habe ich mir nämlich auch gedacht", zickt Joline weiter und dreht sich kurz zu mir. „Hi Robin."

„Hallo", sage ich nur zu beiden und setze mich an den anderen Tisch. Ich hoffe inständig, dass sie nicht versuchen, mich in ihr Gespräch zu verwickeln, denn-
„Robin?", wendet sich Joline direkt an mich und ich seufze innerlich. „Hast du schon mal mitbekommen, dass ich eine Durchsage ignoriert habe?"
„Nein, Joline", antworte ich ehrlich und ziehe mein Buch hervor. „Ich sitze aber auch hinten im Büro und beachte die Durchsagen nicht wirklich."
„Kathy hat nämlich behauptet, ich hätte am Freitag ihre Durchsage ignoriert, dabei stimmt das gar nicht", faselt sie weiter und ich unterdrücke mühsam den Drang, mit meinen Augen zu rollen. „Nachher denken hier alle, ich würde Durchsagen ignorieren."

„Nein, Joline", sage ich ruhig. „Das denke ich nicht."
Sie regt sich weiter über Kathy auf, während Marie ihr immer stets beipflichtet und ich blende das Geschnatter der beiden aus, während ich mich auf die Seite in meinem Buch konzentriere, auf der ich zuletzt aufgehört habe zu lesen.

Wandelmut | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt