Karies und Mundpilz

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Enrico nimmt mir die rosafarbene Kaugummipackung ab, reißt sie auf und reicht mir einen der kleinen, verpackten Quader.
„Kauen", fordert er mich auf und steckt sich selbst einen Kaugummi in den Mund. Gebannt starre ich auf seine Lippen, die sich mit der Arbeit seiner Zähne bewegen und tue es ihm gleich.

Der Kaugummi ist klebrig süß und wird bald zu einer zähen Masse in meinem Mund.
„Also", nuschelt Enrico. „Zuerst musst du ihn mit deiner Zunge und deinem Gaumen plattdrücken." Er scheint das zu tun und streckt mir seine Zunge heraus, auf der nun ein unförmiger, platter, pinkfarbener Kaugummi klebt.

Ich bemühe mich, die Masse in meinem Mund ebenfalls plattzudrücken, doch sie scheint sich immer in zwei Hälften zu teilen, so dass ich wieder kauen und von vorn beginnen muss. Enrico streicht mit seinem Daumen über meine Stirn und lächelt dabei.
„Nicht so angestrengt, Robin", sagt er. „Davon bekommt man Falten."

Ich versuche, meine Stirn locker zu halten und schließlich fühlt sich der Kaugummi so an, wie ich denke, dass er sein muss. Zögerlich strecke ich meine Zunge heraus und Enrico beugt sich vor, um mein Werk näher zu betrachten.
„Sehr gut", sagt er. „Und jetzt klemmst du das Ding von hinten gegen deine Zähne und schiebst es ein Stück mit der Zunge da durch. Tso!"
Das „So" kommt nur gelispelt, denn er scheint zeitgleich das zu tun, was er mir aufträgt. Er öffnet seine Lippen und ich beuge mich nun ebenfalls vor, um zu sehen, was seine Zunge tut.

Wieder ahme ich seine Bewegungen nach und frage mich, wie merkwürdig es wohl gerade aussehen muss, wie ich hier neben ihm sitze und meine jetzt vollkommen in Kaugummi gehüllte Zunge durch meine Zähne strecke.

„Und dann... musst du die Lippen zumachen und pusten", nuschelt Enrico und produziert eine kleine Blase. Ich tue, was er sagt, schließe meinen Mund leicht und puste.

Mit einem Plopp! fliegt der matschige Kaugummi aus meinem Mund und klatscht auf den sandigen Boden vor mir.
„Oh!", ist alles, was ich hervorbringen kann, während Enrico neben mir beginnt zu kichern. Er beugt sich nach vorn, hebt den Kaugummi auf und befördert ihn in den Mülleimer, der neben der Bank, auf der wir sitzen, steht.

Ich frage mich, ob er das nicht eklig findet, meinen angesabberten Kaugummi anzufassen. Immerhin ist da mein Speichel dran und jetzt auch noch Sand. Aber Enrico zieht ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche, wischt sich die Finger daran ab und hält mir ein weiteres Kaugummipäckchen hin.

„Nochmal", weist er mich an und ich nehme das Päckchen aus seiner Hand.
„Ich glaub, ich kann das nicht", wende ich ein, doch er schüttelt nur den Kopf und sagt: „Papperlapapp, du schaffst das."
Wieder stecke ich das süße Zeug in meinen Mund und beginne zu kauen.
„Du musst es gefühlvoller machen", erklärt er und macht eine weitere Blase, die er sogleich zerplatzen lässt. „Wie beim Küssen."

Beschämt sehe ich auf meine Hände und vergesse dabei vollkommen zu kauen.
„Hey, ich weiß, dass du schon mal geküsst hast, ich hab dich gesehen. Mit deiner Nicht-Freundin", neckt er mich und stößt leicht mit seiner Schulter gegen meine.
„Das... war eher unfreiwillig", brumme ich.
„Wie? Bist du gestolpert und dabei auf ihren Mund gefallen?", lacht Enrico und ich runzele wieder die Stirn.

Das ist ja nun wirklich die absurdeste Art zu fallen, denke ich.
„Nein", antworte ich langgezogen. „Sie hat mich an sich gezogen und ihre Zunge in meinen Mund gesteckt. Ich finde Küssen ekelhaft."
Enrico reißt überrascht die Augen auf und ich beginne sogleich, mich zu verteidigen: „Es ist schleimig und man tauscht die Spucke mit jemandem und derjenige hat vielleicht Karies oder Mundpilz und ich verstehe nicht, wieso Leute das machen."

Enrico lacht leise und ich kann nicht anders, als beleidigt zu sein. Macht er sich lustig über mich?
„Entschuldige, Robin", grinst er und legt seine Hand auf meinen Unterarm. „Aber du klingst wie die Jungs bei mir im Kindergarten. ‚Küssen ist eklig! Mädchen sind eklig!'"
Ich zucke mit den Schultern und nehme den Kaugummi aus meinem Mund. Irgendwie ist mir die Lust am Blasen machen vergangen.

„Du hast wohl noch nie richtig gut geküsst, wenn du so denkst", überlegt Enrico und ich sehe ihn finster an.
„Ist doch meine Sache!", zicke ich und überlege, ob es wohl sehr kindisch von mir wäre, wenn ich jetzt einfach aufstünde und ginge.
Enrico atmet tief durch und sieht mich lächelnd an. „Magst du lieber Jungs oder Mädchen, Robin?", fragt er und ich ziehe meinen Arm aus seinem Griff.
„Was soll die Frage jetzt?", frage ich skeptisch.
„Es ist eine einfache Frage."

„Was magst du denn?", pampe ich ihn an.
„Hm", überlegt er. „Ich mag tatsächlich beides, aber Jungs wohl ein bisschen mehr."
Mit großen Augen sehe ich ihn an. Wieso weiß er das so genau? Wieso weiß ich das nicht? Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, darum weiß ich es wohl nicht.
„Und du?", bohrt er weiter.

Betreten sehe ich auf meine Finger, die die rosafarbene Kaugummimasse kneten. Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung, Menschen interessieren mich meistens nicht", gebe ich zu. „Ich dachte, ich sollte wohl mal beides probieren, aber diese Frau am Samstag war ekelig."
Ich habe absolut keine Ahnung, warum ich ihm das erzähle. Erzählt man Fremden so etwas einfach? Ich denke nicht, also warum tue ich das hier gerade?

„Und hast du?"
„Was?"
„Beides probiert?"
Ich schnaube und werfe den Kaugummi in den Mülleimer.
„Nein, nach dem ekligen Spuckekuss ist mir die Lust nach Probieren vergangen", motze ich und stehe auf.
„Und jetzt läufst du weg", stellt Enrico fest.
„Wir wollten Kaugummiblasen machen und du stellst komische Fragen", zetere ich und weiß, dass ich klinge wie ein Vierjähriger. „Dann kann ich auch gehen."

„Wir wollten uns unterhalten", stellt Enrico klar. „Und die Blasen können wir immer noch machen."
Alles, was ich antworten kann, ist ein „Pfft!"
„Komm", sagt er liebevoll und klopft auf die Bank neben sich. „Wir üben jetzt die Kaugummiblasen und gehen erst, wenn du es kannst."
Widerwillig setze ich mich wieder neben ihn.
„Und ich bin der beste Kaugummiblasenlehrer, den du in diesem Park finden kannst, also bin ich sicher, wir schaffen das vor Sonnenuntergang", betont er und reicht mir ein weiteres Päckchen.

Wandelmut | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt