Salz und Zitrone

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„Hey", macht Clark, als ich wieder neben ihm stehe. „Alles okay bei dir, Robin?"
„Geht so", brumme ich und winke verzweifelt nach dem Barkeeper.
„Ist was passiert?", will mein Kollege wissen, doch ich kann ihm wohl kaum erzählen, dass ich eben fast mich selbst und, was noch viel schlimmer gewesen wäre, Enrico DiFranco angepisst hätte. Buchstäblich.

Unfassbar, dass er so schnell reagiert hat. Vermutlich passiert ihm das im Kindergarten öfter. Dürfen kleine Jungs wohl im Stehen pinkeln oder werden sie zu Sitzpinklern erzogen? Und wenn sie im Stehen pinkeln dürfen, gibt es dann kleine Kinderpissoirs, an denen sie es lernen? Oder müssen sie warten bis sie groß genug sind, um an die Standardgröße heranzukommen?

Der Barkeeper schenkt mir nun endlich seine Aufmerksamkeit und ich sage: „Tequila, zwei."
Frannie neben mir kichert und ich sehe sie verwirrt an. Oh, sie denkt wohl, ich gebe ihr einen Drink aus.
„Machen Sie bitte fünf", korrigiere ich meine Bestellung und höre ein verdutztes „Äh" von Clark.

Als die fünf Shotgläser samt Zitronen und Salzstreuern vor uns stehen, knalle ich einen Geldschein auf den Tresen und greife sofort nach einem der kleinen Gläser. Bevor Frannie die Gelegenheit hat, ihr Glas gegen meines zu stoßen, habe ich die brennende Flüssigkeit bereits meine Kehle hinabgeschüttet.

Übelkeit überkommt mich, der bittere Geschmack will meinem Körper signalisieren, dass die eben aufgenommene Flüssigkeit nicht gut für mich ist und mein Magen reagiert prompt. Nur mit Mühe kann ich das bevorstehende Erbrechen zurückhalten und versuche, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Ich hasse Alkohol.

„Wow, du gibst ja Gas", höre ich Angel unsicher kichern und beobachte, wie sie ihren Handrücken mit ihrer pinkfarbenen Zunge befeuchtet und anschließend Salz auf die nasse Stelle streut. Clark und Frannie imitieren den Ablauf und dann lecken alle drei gleichzeitig das Salz ab, bevor sie ihre Shots in einem Zug leeren und in die Zitronenscheiben beißen.

Frannie und Angel kichern wie zwei verrückte Hühner und lehnen sich dabei an Clark. Frannies Arm legt sich wie beiläufig um meine Hüfte und ich hebe überrascht meine Augenbrauen. Was hat das auf einmal zu bedeuten? Ich sehe zu Clark und stelle fest, dass er sich auffällig nah an Angel drückt, die das nicht zu stören scheint. Im Gegenteil, sie scheint ihn sogar noch näher an sich zu ziehen.

Zeit für einen weiteren Drink, denke ich panisch, greife nach dem letzten Shotglas und stürze es ohne Salz und Zitrone herunter. Wieder schüttelt es mich angewidert und das Gefühl verbessert sich auch nicht, als Frannie ihre Hand an meine Wange legt und mich verführerisch anlächelt.

„Musst du dir erst Mut antrinken, Robin?", kichert sie und ich schüttele perplex den Kopf. Gerade will ich noch etwas erwidern, als ich hinter ihr die auffällig gestylten schwarzen Haare von Enrico DiFranco sehe. Er steht etwa fünf Meter vom Tresen entfernt an einem der vielen Stehtische und mustert mich mit erhobener Augenbraue.

Mein Atem stockt und sofort schlägt mein Herz schneller. Oh, der Tequila war wohl keine gute Idee. Die blonden Haare von Frannie drängen sich in mein Blickfeld und noch während ich in Enrico DiFrancos dunkle Augen starre, legt Frannie plötzlich ihre klebrig feuchten Lippen auf meine.

Ich bin vollkommen erstarrt. Was muss ich tun? Will ich das? Frannies Hände halten mich fest an Ort und Stelle und auf einmal dringt ihre dicke, nasse Zunge in meinen Mund und tastet darin herum. Ihre klebrigen Lippen bewegen sich an meinen und ich schmecke Zitrone, Tequila und einen Hauch von Salz.

Es ist nicht so, dass ich noch nie über das Thema küssen nachgedacht habe, aber um ehrlich zu sein, konnte ich dem Ganzen nie wirklich etwas abgewinnen. Man tauscht den Speichel samt diverser Keime und Bakterien miteinander aus, feuchte Muskeln, die dafür sorgen, dass man beim Essen nicht erstickt und dass man dazu in der Lage ist zu sprechen, reiben sich auf unbeholfene Art aneinander.

Noch immer bin ich gefangen in meiner Lage und frage mich erneut: Will ich das? Ganz eindeutig nein. Ich fühle mich sehr unwohl. Was soll ich tun? Der erste Impuls ist weglaufen. Sieht Enrico DiFranco das gerade?
Bei der letzten Frage mache ich einen entsetzten Schritt zurück und starre in die Richtung, wo er eben noch stand. Ich kann keine dunklen Haare mehr sehen und blicke mich suchend um.

„Hey", macht Frannie und legt ihre Hand wieder in meinen Nacken. „Du bist aber wirklich schüchtern."
Verwirrt und entsetzt sehe ich sie an. Der klebrige Lipgloss auf ihrem Mund ist leicht verschmiert und ich fahre mir mit meinen Fingern über meine eigenen Lippen. Alles klebt und schmeckt nach Alkohol.

Ohne ein Wort drücke ich mich von ihr weg in die Menschenmenge und dränge mich zum Ausgang. Ich brauche Sauerstoff und Platz. Vor allem Platz. Vor der Bar stehen einige Leute und rauchen und ich habe hier zwar Platz, aber der Sauerstoff reicht mir noch immer nicht aus.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehe ich eine kleine Bank und überquere rasch die Straße, um mich dort hinzusetzen. Ich atme tief ein und aus, versuche den Tequilanebel aus meinem Kopf zu vertreiben. Was würde ich jetzt nicht alles für eine Zahnbürste geben! Der schale Geschmack von Frannies Zunge dominiert noch immer in meinem Mund und ich befürchte, mich übergeben zu müssen.

Ich beobachte die rauchenden Menschen vor der Bar, wie sie sich unterhalten und lachen. Ein Pärchen knutscht wild an eine der Hauswände gelehnt und ich frage mich, ob er das Gefühl wohl genießt oder ob ihr Lipgloss auch so zäh und klebrig ist.

Wieder schüttelt es mich und mein Magen rebelliert. Es gibt nur eine Sache, die furchtbarer ist als Übelkeit und das ist das Übergeben an sich. Um jeden Preis versuche ich das zu vermeiden und bemühe mich, mich mit meinen Gedanken abzulenken.

Unwillkürlich ist das Bild von Enrico DiFranco wieder in meinem Kopf. Wie viele Entschuldigungen hat man wohl bei einem Menschen gut? Gibt es da eine Maximalzahl? Wenn ja, scheine ich mich dieser bei ihm rasant anzunähern. Nicht nur, dass ich seine Kompetenz beleidigt habe, nein, ich pinkele ihn auch noch fast an, starre dann auf seinen Penis und lasse mir vor seinen Augen die Zunge einer fremden Frau in den Mund schieben.

„Erdbeere oder Minze?", fragt plötzlich jemand neben mir und ich zucke zusammen. Enrico DiFranco sitzt auf der Bank und hält mir seine offene Hand hin. „Kaugummi", präzisiert er und ich erkenne einen silbrig eingepackten Streifen und einen kleinen, in pinkfarbenes Papier gepackten Quader.

„Äh", mache ich.
„Ich mag beides und mit dem Erdbeerkaugummi kann man tolle Blasen machen", lacht er mich an. „Sie sehen aus, als hätten Sie gerade gern eine Zahnbürste. Vielleicht nehmen Sie Minze."
Ohne dass ich antworten kann, hält er mir den silbrigen Streifen hin und packt selbst das Erbeerpäckchen aus.

Wandelmut | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt