Alte Schemata vs. Veränderungen

2.2K 279 31
                                    

Ich stehe in der U-Bahn und starre stumpf auf die Werbung über dem Fenster. Eine Fernuniversität wirbt für Bachelor- und Masterstudiengänge. Ich frage mich, ob man einen Bachelor in Kindererziehung machen kann und ob ein zu behandelndes Thema dabei das Aufpusten von Kaugummiblasen ist. Mir wurde so etwas im Kindergarten nie beigebracht, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Allerdings sind meine Erinnerungen an diese Zeit in meinem Leben auch nur spärlich gesät.
Ich rolle mit den Augen, denn schon wieder erwische ich mich selbst dabei, wie ich an etwas denke, das mit Enrico DiFranco zu tun hat.

Samstagabend bin ich den Rest des Weges zu Fuß nach Hause gegangen und habe zu meinem eigenen Erstaunen sogar eine Packung von diesem Erdbeerkaugummi am Nachtschalter einer Tankstelle gekauft. Den gesamten Sonntag habe ich damit verbracht zu versuchen, eine dieser Kaugummiblasen zu produzieren und bin gnadenlos dabei gescheitert.

Heute früh unter der Dusche habe ich mir selbst gesagt, dass es keine gute Idee war, Dinge zu verändern und deshalb beschlossen, wieder zu meinem normalen Alltag zurückzukehren. Dazu gehört, dass ich meine Socken mit ins Badezimmer nehme, obwohl ich sie erst später anziehe und eben Fahrten mit der U-Bahn. Keine Ausflüge mehr in den Delikatessenladen, keine Busfahrten und schon gar keine Spaziergänge an Kindergärten entlang.

Außer Verwirrung hat mir dieser ganze Veränderungskram nichts gebracht. Das und beinahe eine polizeiliche Anhörung. Besser, ich bleibe bei meinem gewohnten Schema.

Im Supermarkt mache ich mich sogleich an die Bestellungen nach dem Wochenende und schaue erst verwirrt auf, als Clark mir kurz vor der Mittagspause an die Schulter tippt.
„Was?", frage ich verwirrt.
„Ich rede mit dir, Robin", sagt Clark lachend. „Du warst so schnell weg am Samstag."
„Ja, sorry", brumme ich und drehe mich wieder zum Schreibtisch. „Der Tequila ist mir wohl nicht so gut bekommen."
„Du hast echt was verpasst", lacht Clark und beginnt, mir ungefragt zu erzählen, wie er mit Angel und Frannie in deren Wohnung ging, nachdem ich fast schon fluchtartig das Weite gesucht hatte.

Unwillkürlich muss ich an die Fahrt im Bus zurückdenken, daran wie Enrico DiFranco mich ignorierte und sagte, es ginge ihn nichts an, ob ich eine Freundin hätte. Hervorragend, jetzt kann ich wieder schlecht atmen. Vielleicht sollte ich einen Termin bei meinem Hausarzt machen.

„Robin Harrisson einmal an die Information bitte", schallt plötzlich Jolines Stimme über die Lautsprecher. Clark sieht mich fragend an und auch ich hebe verwirrt die Augenbrauen. Ich glaube, in meiner ganzen Zeit, die ich hier arbeite, wurde ich noch nie ausgerufen.

„Was ist denn jetzt los?", fragt Clark und ich zucke mit den Schultern.
„Als ich mal ausgerufen wurde, hatte meine Mutter sich die Hüfte gebrochen", überlegt er und ich stehe eilig auf. Ich habe nicht sonderlich viel Kontakt zu meinen Eltern, aber hätten sie mich nicht über mein Handy kontaktiert, wenn etwas passiert wäre?

Schnell gehe ich den Gang von meinem Büro aus nach vorn und stocke, als ich mich der Information nähere. Dort, vor Joline an der Information steht Enrico DiFranco und hält die Pizzarezeptzeitschrift in seinen Händen. Fuck, die hatte ich vollkommen vergessen!

Mit langsamen, bedachten Schritten nähere ich mich dem Tresen und versuche, meine hektische Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Was tut er hier? Wie hat er mich gefunden? Was will er hier überhaupt?

Seine dunklen Augen erblicken mich und sogleich beginnt er zu lächeln. Ich schlucke schwer und bleibe mit einigem Abstand vor ihm stehen.
„Robin, dieser Mann hat nach dir gefragt", erklärt Joline und zeigt auf Enrico DiFranco.
„Danke, Joline", antworte ich ohne sie anzusehen.
„Hallo Mr. Harrisson", lächelt Enrico DiFranco mich an.
„Was tun Sie hier?", frage ich und werde das Gefühl nicht los, dass wir beobachtet werden.

Mein Gefühl täuscht mich nicht, denn Joline hat sich nicht taktfühlend, wie man es erwarten könnte, zurückgezogen, sondern steht nach wie vor an den Tresen gelehnt da und starrt uns ungeniert an.
„Meine Kollegin hat mir Ihre Nachricht überbracht", erklärt er und hält die Zeitung hoch. „Und ich wollte mich gern dafür bedanken."
Joline scheinen fast die Augen aus dem Kopf zu fallen und ich sehe sie direkt an.
„Joline, musst du nicht noch die Ware etikettieren?", frage ich und sie grinst frech.
„Nö, das macht heute Elisa. Lasst euch durch mich nicht stören."

Genervt rolle ich mit den Augen und bedeute Mr. DiFranco, mir zu folgen.
„Gehst du jetzt während der Arbeitszeit raus und führst Privatgespräche, Robin?", fragt mich meine neugierige Kollegin und ich atme laut aus.
„Nein, Joline", sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Ich mache jetzt meine Mittagspause."

Mit langen Schritten verlasse ich den Supermarkt und bleibe davor stehen. Enrico DiFranco folgt mir und dreht sich noch einmal amüsiert nach Joline um.
„Neugieriges kleines Ding", stellt er fest und wieder rolle ich mit den Augen.
„Sie haben ja keine Ahnung."
„Ich wollte Sie wirklich nicht von der Arbeit abhalten", sagt er und nestelt an dem Magazin in seinen Händen herum.
„Schon gut, es ist ohnehin Pausenzeit und so muss ich nicht in den Personalraum", überlege ich laut.

„Ich... äh... danke jedenfalls für die Rezepte", sagt er erneut und ich schaue betreten auf den Boden.
„Ich wollte damit nur signalisieren, dass Sie recht hatten und meine Aussage vollkommen unqualifiziert war", erkläre ich. „Ich bin sicher, Sie machen einen hervorragenden Job."
„Danke", erwidert er freundlich. „Und Sie hatten recht mit dem Plural von Triceratops. Ich habe es gegoogelt."

„Nun, das musste ich auch erst nachprüfen", entgegne ich schüchtern. „Und... ähm..."
„Ja?"
„Es tut mir leid, dass ich Sie fast... naja... auf der Toilette, Sie wissen schon...", murmele ich.
Er lacht und schüttelt amüsiert seinen Kopf.
„Nun, das passiert mir nicht wirklich oft, aber es passiert auch nicht wirklich oft, dass man beim Pinkeln angesprochen wird. Ich hätte es mir also selbst zuzuschreiben."

„Gibt es im Kindergarten kleine Pissoirs? Für die Jungs? Dass sie lernen, im Stehen zu pinkeln?", platze ich heraus. Mr. DiFranco schaut mich mit großen Augen an und lacht erneut.
„Waren Sie nicht im Kindergarten?", fragt er zurück.
„Doch, aber... ich habe nicht sonderlich viele Erinnerungen an die dortigen Badezimmer", gebe ich zu.

„Das ist aber schade", sagt er und lächelt noch immer.
„Dass ich mich nicht an die Badezimmer erinnere?"
„Dass Sie kaum noch etwas aus der Zeit wissen. Ich wette, Sie waren auch so ein Kind, welches interessante Fragen stellt."
„Wie der Geschmack von grün oder der drittliebste Dinosaurier?"
„Genau", freut er sich. „Oder welches mein Lieblingsinsekt ist oder was ich an Türen mag."
„Lieblingsinsekt?", überlege ich. Auch darüber habe ich noch nie nachgedacht.

„Gehen wir ein Stück, solange Sie Pause haben?", schlägt er vor. „Ich wüsste schrecklich gern, welches Ihr Lieblingsinsekt ist."

Wandelmut | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt