Erklärungen und Offenbarungen

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Enrico und ich sitzen nebeneinander auf meinem Sofa, ich lehne an ihm, mein Kopf auf seiner Schulter, meine Hand in seiner auf seinem Oberschenkel. Meine Atmung hat sich wieder beruhigt und zu meiner Erleichterung ist der Eisblock um mein Herz wieder aufgetaut, während ich Enricos Nähe spüre. Ich fühle mich wieder vollständig und bin fast etwas erschrocken darüber, wie schnell diese Vollkommenheit sich wieder eingestellt hat. Ebenso schnell wie die Unvollkommenheit mich gestern förmlich überrollte, als Enrico mich so plötzlich allein ließ.

Ist es gut, so abhängig von der Anwesenheit einer anderen Person zu sein? Kann man das überhaupt beeinflussen?

„Ich hatte nur ein paar Beziehungen in meinem Leben", beginnt Enrico zu erzählen. „Und meine letzte Beziehung war der Grund, warum ich danach eigentlich keine mehr wollte. Ich liebe die Liebe und ich liebe es, verliebt zu sein. Aber ich verstehe deine Frage, ob Liebe wehtun muss, nur allzu gut, denn genau das tat sie für eine sehr lange Zeit bei mir."

Ich sitze ganz still und lausche einfach nur Enricos Worten.
„Eric und ich lernten uns im Urlaub in Kuba kennen", berichtet er weiter. „Es war Liebe auf den ersten Blick, würde ich sagen, und es war einfach alles perfekt. Er war großartig im Bett, trug mich auf Händen und es hätte nicht schöner sein können.

Leider lebte er in New Jersey, was glücklicherweise nicht so weit weg ist, dass wir uns nur selten sahen, aber es reichte eben doch nur für eine Wochenendbeziehung. Unter der Woche vermisste ich ihn sehr und er war auch der Grund, warum ich meinen Arbeitsvertrag anpasste und freitags normalerweise frei habe.

Ich verriet ihm nichts davon, als ich zum ersten Mal schon am Donnerstagabend zu ihm kam und erwischte ihn mit einem anderen Mann in seinem Bett."

Erschrocken hebe ich den Kopf und Enrico zuckt mit den Schultern, sein Gesicht traurig.
„Natürlich bin ich total ausgeflippt, habe geschrien und geweint und mich sofort in den Zug zurück nach New York gesetzt. Zwei Wochen hatten wir keinen Kontakt und ich litt fürchterlich. Eric rief täglich an, sprach auf meinen Anrufbeantworter, weinte und erzählte mir, wie sehr er mich liebte und vermisste.

Und ich liebte ihn ebenso, noch immer. Er beteuerte, dass es ein Ausrutscher war, er alles bereute und er nicht ohne mich leben konnte. Irgendwann waren der Schmerz und die Einsamkeit so groß, dass ich ihm verzieh und wir wieder zusammenkamen.

Für eine Weile war alles wieder wie vorher, ich fuhr jeden Donnerstag zu ihm und wir verbrachten die Wochenenden zusammen. Ich dachte sogar daran, nach New Jersey zu ziehen. Doch immer wieder gab es kleine Momente, die mich stutzig werden ließen.

Wenn wir auf dem Markt waren oder irgendwo essen, sah er sich ständig um oder fand Umwege, die wir gehen sollten. New Jersey ist nicht New York, aber es ist auch kein Dorf. Eric erklärte immer, dass er in seinem Job als Außendienstverkäufer sehr viele Menschen kennen würde und keine Lust hätte, auch in seiner Freizeit mit arbeitsrelevanten Dingen konfrontiert werden wollte.

Eines Morgens, als Eric gerade laufen war, klingelte sein Telefon und ein Mann fragte, wo er denn bliebe. Es stellte sich heraus, dass mein Freund eine Beziehung zu diesem Mann, mit dem ich ihn Monate zuvor erwischt hatte und quasi ein Zweitleben mit diesem führte.

Es brach mein Herz. Ich wartete, bis er zurückkam und stellte ihn zur Rede. Zunächst stritt er alles ab, doch als ich ihm die Fotos von ihm und diesem Mann, die er in meiner Anwesenheit immer in seinem Putzmittelschrank aufbewahrt hatte, präsentierte, gab er zu, dass er mich die ganze Zeit mit dem anderen Mann betrogen hatte. Er könnte nicht anders, ein Mann würde ihm nicht reichen, sagte er.

Ich ging und habe ihn seitdem nie wieder gesehen", beendet Enrico seine Geschichte. „Als dieser Florian dich die ganze Zeit angefasst und dir schöne Augen gemacht hat, holte mich das alles wieder ein, Robin. Ich weiß, ich habe dir damit Unrecht getan, denn du bist nicht wie er, doch all der Schmerz kam plötzlich wieder hoch und ließ mich die Flucht ergreifen, um mich selbst zu schützen. Ich schätze, bei dir täte es mir noch mehr weh als bei ihm und damals bin ich fast daran zerbrochen.

Ich wollte keine Ausreden hören, wollte mit dir abschließen, doch ohne dich fühlte ich mich so..."
„Unvollständig", beende ich seinen Satz und er nickt.
„Es tut mir wirklich leid, Robin. Ich habe überreagiert und werde beim nächsten Mal direkt sagen, was mich stört. Ehrlichkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften, dass eine Beziehung funktioniert und ich möchte so sehr, dass diese hier funktioniert."

Ich lächele und streichele über Enricos Hand.
„Das sehe ich genauso. Und darf ich auch ehrlich sein?", frage ich.
„Immer."
„Ich habe gestern zum ersten Mal seit mein Hund Boomer überfahren wurde, wieder geweint", gebe ich zu. „Ich weiß, es klingt vollkommen überdramatisch und vielleicht findest du den Vergleich auch keineswegs schmeichelhaft, aber ich fühlte mich genauso verletzt und traurig wie damals als er weglief und mein Dad mir abends erklären musste, dass ich meinen Hund nie wiedersehen würde."

„Das finde ich nicht überdramatisch", widerspricht Enrico. „Kinder lieben ihre Tiere abgöttisch, meist mehr als die eigenen Eltern."
Ich lächele bei der Erinnerung an Boomer.
„Das stimmt", gebe ich zu. „Es macht mir ein wenig Angst, dass ich mich nach so kurzer Zeit schon so verbunden mit dir fühle, Enrico. Dieser Eric war so ein törichter Mann, aber es ist wohl mein Glück, dass er nicht erkannt hat, dass du alles bist, was man sich nur wünschen kann. Du bist mehr als genug für mich, Enrico und ich werde dir nie sagen, dass du mir nicht reichst."

Enrico strahlt mich mit seinen funkelnden Augen an und küsst liebevoll meine Nasenspitze.
„Danke, Robin", flüstert er kaum hörbar.
„Und jetzt muss ich die zuckersüße, romantische Stimmung zunichte machen", sage ich, setze mich gerade auf und grinse ihn an. „Denn ich hätte jetzt furchtbar gern Sex mit dir."
„Ein Mann der direkten Worte", lacht Enrico laut und verschränkt unsere Finger miteinander.

Wandelmut | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt