Odontophobie

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„Hab- hab ich dich irgendwie verletzt gestern?", frage ich mit zittriger Stimme.
„Was? Nein!", macht Enrico und sieht mich verwundert an. Wieder legt er seinen Kopf auf dem geschlossenen Toilettendeckel ab. „Ich hab nur Angst."
„Angst?", hake ich nach. „Wovor? Vor mir?"
Enrico rollt tatsächlich mit den Augen, was mir wohl signalisieren soll wie unwahrscheinlich meine eigene Aussage ist.

„Ich leide unter Odontophobie", flüstert er und sieht mich mit großen Augen an. Meine Augen weiten sich ebenfalls. Ich weiß zwar nicht, was das ist, aber es klingt ernst. Warum hat er mir nicht schon vorher gesagt, dass er eine ernsthafte Erkrankung hat?

„W-Was ist das?", frage ich und spüre wie meine Unterlippe vor Nervosität zittert.
„Ich... ich habe panische Angst vor Zahnbehandlungen", wispert Enrico kaum hörbar und ich starre ihn verdattert an. Es dauert einen Moment, bis die Information vollständig von meinem Hirn verarbeitet ist und mir bewusst wird, dass Enrico nicht unheilbar an einer grausamen Krankheit leidet, die ihn innerhalb der nächsten Wochen unter furchtbaren Qualen aus dem Leben reißen wird.

„Du hast Zahnschmerzen?", versuche ich, die Information noch einmal korrekt zusammenzufassen und Enrico nickt. Als er seinen Kopf hebt, sehe ich, dass seine rechte Wange eine deutliche Schwellung aufweist und rücke erleichtert zu ihm.
Vorsichtig ziehe ich ihn in meine Arme und seufze erleichtert auf.
„Oh Gott, bitte mach mir nie wieder solche Angst, Enrico", jammere ich. „Ich dachte, du wirst sterben."
„So fühlt es sich auch an", murmelt er und klingt verletzt dabei.
„Das glaube ich dir sofort", pflichte ich ihm bei und hebe kurz den Zeigefinger, um ihm zu bedeuten, dass er hier warten soll, während ich etwas hole.

Etwas albern von mir, wo sollte er auch hin?

Ich komme mit meinem Telefon zurück und scrolle bereits durch die Kontakte.
„Was tust du?", nuschelt Enrico und legt seine dicke Wange wieder auf den kühlenden Klodeckel.
„Ich rufe Dr. Webber an", erkläre ich ernst und wähle bereits die Nummer.
„Es geht gleich wieder", jammert Enrico und greift nach meinem Telefon.
„Nein, du hast eine Entzündung oder einen Abzess oder was anderes Schlimmes und das muss er sich ansehen. Ich lasse dich nicht leiden." Es klingelt und ich schnappe erschrocken nach Luft, als Enrico mir plötzlich mein Telefon aus der Hand reißt und die Verbindung unterbricht.

„Nein!", knurrt er, seine Augen mit ängstlichen Tränen gefüllt. „Ich gehe nicht zum Zahnarzt!"
Verzweifelt sehe ich ihn an und rede auf ihn ein: „Enrico, dir geht es schlecht. Du musst das anschauen lassen. Ich komme mit, okay? Ich kenne Dr. Webber seit ich ein Kind war, er ist der netteste Arzt, den ich kenne."

„Die Tablette wirkt schon", sagt er und lächelt mich an, bevor er aufsteht. „War vermutlich nur ein freiliegender Zahnhals. Kennst du das? Da hole ich mir nachher so ein Gel, was man draufschmiert und dann geht das wieder."
Skeptisch sehe ich ihm nach wie er zum Waschbecken geht und sich allen Ernstes sogar beginnt die Zähne zu putzen.

„Sieschst du?", nuschelt er mit der Zahnbürste im Mund. „Alles wieder gut. Willst du gleich einen Kaffee? Du musst unbedingt noch meinen Kaffee probieren."
Ich betrachte ihn lange und ich weiß, dass Enrico lügt. Dennoch kann ich ihn nicht zwingen, obwohl es mir das Herz bricht ihn leiden zu sehen. Also lächele ich, nicke ergeben und antworte: „Kaffee wäre toll."

Enricos Kaffee schmeckt wirklich gut. Wäre ich nicht so besorgt um meinen Freund, der jetzt zwar angeblich keine Schmerzen, aber weiterhin eine dicke Backe hat, würde ich ihn sogar richtig genießen und vermutlich glauben, ich wäre im Kaffeehimmel. So kann ich nur feststellen, dass er gut schmeckt und Enrico heimlich beobachten.

„Gut?", fragt er und lächelt, doch das Lächeln scheint seine Augen nicht zu erreichen, vielmehr scheint es ihm wehzutun.
„Total lecker", erwidere ich und lächele, wobei sich mein Lächeln mindestens so unecht anfühlt wie seins.

Von Enricos Wohnung kann ich mit dem Bus in den Supermarkt fahren und so gebe ich ihm einen Kuss und frage: „Parkbank um fünf?"
Er lächelt und streichelt meine Wange.
„Parkbank um fünf", bestätigt er. „Ich liebe dich, Robin."
Und jetzt ist mein Lächeln echt, als ich sage: „Ich liebe dich auch, Enrico."

Auf dem Weg zum Bus nehme ich mein Handy und wähle die Nummer von Dr. Webbers Praxis erneut. Es kostet nichts, mal nachzufragen ob sie heute noch einen freien Termin für uns hätten.

•••

Enrico

Wie ist dein Tag?

Geht so.

Der Zahn?

Nein. Nur ein bisschen.

Du sagst, wenn es nicht
mehr geht, ja?

Es geht aber noch!

Okay.

Robin?

Ja?

Ich liebe dich.

Ich liebe dich auch.

Und Robin?

Ja, Enrico?

Würdest du auch meine
Hand halten?

Die ganze Zeit.

Ich renne schon fast zu Mr. Grangers Büro und klopfe aufgeregt an die Tür.
„Ja bitte?", kommt es von drinnen und ich reiße die Tür auf.
„Mr. Granger, ich müsste heute früher gehen."
„Früher?", fragt mein Boss verblüfft.
„Ja", antworte ich atemlos. „Genau genommen jetzt."
„Weil?"
„Mein... mein Freund. Ihm geht es nicht gut und er muss zum Arzt."
„Und kann da nicht jemand anderes begleiten?"
Entsetzt reiße ich meine Augen auf, denn Mr. Granger scheint die Dringlichkeit meiner Anfrage nicht bewusst zu sein.

„Nein", presse ich hervor. „Wäre es Ihre Frau, würden Sie sie auch nicht mit jemand anderem schicken."
Mr. Granger sieht mich lange an und sagt dann langgezogen: „Ja, Mr. Harrisson. Meine Frau. Bei Ihnen ist es nur ein Freund."
Wütend formen sich meine Augen zu Schlitzen und unbewusst balle ich meine Hand zur Faust.
„Ohne respektlos sein zu wollen, Mr. Granger", knurre ich. „Aber Enrico ist mehr als nur ein Freund." Bei ‚nur ein' hebe ich sogar meinen Zeige- und Mittelfinger zum internationalen Gänsefüßchensymbol. „Und ich bin mir sicher, dass er in nicht allzu ferner Zukunft im gleichen Familienverhältnis zu mir stehen wird wie Sie zu Ihrer Frau."

Wandelmut | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt