Pappardelle und Conchiglie

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Glücklicherweise ist die Pause von Joline schneller vorbei, als dass ich noch länger unfreiwilliger Zeuge ihrer Lästereien sein muss. Sie verlässt den Pausenraum und lässt Marie am Tisch zurück. Diese zückt unverzüglich ihr Handy und beginnt wild zu tippen, bevor auch sie den Raum verlässt.

Die übrigen zwanzig Minuten habe ich meine Ruhe, nur zwei Aushilfen, die Regale einräumen, setzen sich stumm an den Tisch und spielen auf ihren Smartphones.

Als meine Pause vorbei ist, gehe ich zurück an meinen Schreibtisch, verstaue mein Buch in der Schublade und mache mich an die Nachbestellung der Pasta. Es ist kurios, dass die Menschen oft nur die gleichen Pastasorten kaufen. Fusilli und Penne. Oft auch Spaghetti und Makkaroni, manchmal noch Gemelli oder Farfalle.

Aber was ist mit Campanelle oder Conchiglie? Ich mache mir nur ab und zu Pasta, aber warum kauft man nie diese Sorten?

„Hey Robin", unterbricht mein Kollege Clark meine Gedankengänge über Nudeln. „Wie sieht's aus?"
„Ganz gut", antworte ich, so wie eigentlich immer. „Und selbst?"
„Gut, gut", erwidert er und setzt sich an den anderen freien Schreibtisch.

Clark und ich verstehen uns gut, denke ich. Er hält sich ebenso wie ich aus den Highschoolzickereien der Verkäuferinnen heraus und mehr als einmal haben wir beide uns stumm im Büro gegenseitig genervte Blicke zugeworfen.

Was noch nerviger als die Lästerthemen ist, sind die häufigen Annäherungsversuche einiger Kolleginnen. Clark scheint sich davon meist geschmeichelt zu fühlen, während ich froh bin, wenn ich gar nicht erst angesprochen werde. Besonders in meiner Anfangszeit vor zwei Jahren war die ein oder andere mehr als offensiv in ihren Versuchen und ich musste sogar eine Freundin erfinden, die ich nicht habe, damit ich in Ruhe gelassen werde.

Pünktlich um 17:00 Uhr mache ich Feierabend und gehe zurück zur U-Bahn. Auf dem Weg zwischen vielen anderen Menschen, die es kaum erwarten können, nach Hause zu kommen, muss ich plötzlich an den alten Mann von heute Morgen denken.
Hat er es eigentlich mit seinem Rollator nach Hause geschafft? Was hat ihn wohl dazu bewegt, überhaupt bis zur Rolltreppe gehen zu wollen, wenn er doch gar nicht vorhatte, in einen Zug zu steigen? Kleine Veränderungen fallen leichter als Große, hat er gesagt. Damit wird er vermutlich recht haben.
Ich persönlich bin kein Freund von Veränderungen. Never change a running system, denke ich mir immer. Warum etwas ändern, wenn es doch funktioniert?

Die fünf Haltestellen nach Hause denke ich darüber nach, warum dieser Mann sich in seinem Alter nach Veränderungen sehnt. Müsste nicht gerade sein Leben in geordneten, sicheren Bahnen laufen? Als ich die Rolltreppe nach oben fahre, muss ich unwillkürlich daran denken, wie freudig er sich heute früh hier umgesehen hat. Was hat er wohl alles gesehen? Viele Menschen, die es eilig haben und sich selbst nie umsehen vermutlich.

Bevor ich um die Ecke zu meinem Block gehe, stoppe ich in einem Anflug von Spontanität an dem kleinen Delikatessenladen an der Ecke. Jeden Tag gehe ich hier vorbei und oft drangen interessante Gerüche von selbstgemachtem Essen heraus. Täglich steht ein anderes Tagesangebot in Kreide auf einen Aufsteller vor dem Laden geschrieben und heute steht dort:

Hausgemachte Arrabiata oder Carbonara mit verschiedenen Pastasorten

Pastasorten? Neugierig betrete ich das kleine Geschäft und stelle fest, dass es größer wirkt als von draußen. Es gibt drei kleine Tische, an denen man Platz nehmen kann, an den Wänden Regale mit zahlreichen Gläsern und Dosen, die von Hand beschriftet sind und einen kleinen Tresen, hinter dem eine junge, rothaarige Frau mich freundlich anlächelt.

„Hi", sagt sie und sieht mich erwartungsvoll an.
„Hallo", grüße ich sie. „Ich habe das Schild gesehen und dachte, ich frage mal, was Sie für Pastasorten haben."
„Oh, wir haben Pappardelle, Conchiglie und Ruote", zählt die junge Frau auf.
„Rote?", wiederhole ich skeptisch.
„Nein", lacht sie. „Ruote. Die sehen aus wie kleine Räder." Sie holt eine Packung aus einem Regal hinter sich und zeigt mir durch das kleine Sichtfenster in der Folie, wie die rohe Pasta aussieht.

„Wow", mache ich. „Ich denke, ich nehme die Conchiglie mit der Arrabiata Sauce zum Mitnehmen und diese Ru-ote Sorte da als Packung. Geht das?"
„Sehr gern", freut sie sich, stellt mir die Packung auf den Tresen und verschwindet in einer kleinen Küche im hinteren Teil des Ladens.

Neugierig sehe ich mich zwischen den ganzen Ölfläschchen, Pestosorten und Gewürzdosen um. Die rothaarige Frau kommt zurück und reicht mir eine Papiertüte, in der sich offenbar mein unerwartetes Abendessen befindet.
„Parmesan auch?", fragt sie, doch ich schüttele den Kopf. Ich mag Käse und ich mag Überbackenes, aber Streukäse auf Sauce schmeckt nur krümelig und nach Käse und wenig nach Sauce.

Ich nehme die Tüte, verstaue meine neue Packung Ruote-Pasta zusätzlich darin und zahle.
„Morgen ist Risotto-Tag", kündigt sie fröhlich an. „Vielleicht hast du ja wieder Lust, etwas mitzunehmen."
„Ich überlege es mir, danke", antworte ich. Ich möchte keine festen Zusagen machen.

Gespannt mache ich mich auf den Weg zu meiner Wohnung und stelle mein spontan gekauftes Essen auf meinem Esstisch ab. Ich ziehe mich um und hänge mein Hemd ordentlich im Schrank auf die rechte Seite, wo ich meine getragenen Hemden aufbewahre. In T-Shirt und Jogginghose setze ich mich an den Tisch und packe die Pasta mit der Sauce aus.

Conchiglie sehen aus wie riesige Muscheln und diese liegen nun gefüllt mit roter, duftender Sauce vor mir. Sie schmecken unfassbar gut und ich beschließe, das Angebot mit dem Risotto vielleicht morgen direkt in Anspruch zu nehmen.

Nach dem Essen setze ich mich auf mein Sofa und schalte den Fernseher an. Ich zappe durch das eher unintellektuelle Programm und bleibe bei einer Dokumentation über Schiffsmotoren hängen. Wie so oft nicke ich nach kurzer Zeit ein und träume wirre Sachen über Durchsagen im Supermarkt, die verlauten lassen, dass Joline keine Pappardelle bestellt hat und Clark, der im Rollator nicht durch die Tür des Pausenraums kommt.

Gegen halb zehn wache ich auf, schalte den Fernseher aus und gehe meine Zähne putzen. In der Küche bereite ich die Kaffeemaschine für morgen früh vor, gehe ins Schlafzimmer und lege mich in mein Bett.

Wandelmut | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt