Der Geschmack von Grün

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Schon vor dem Wecker bin ich wach und überlege krampfhaft, was ich nun mit diesem Enrico DiFranco machen soll. Eigentlich müsste ich gar nichts machen, ich kenne diesen Mann nicht einmal. Dennoch habe ich ihn unbewusst beleidigt und das tut mir leid. Ich wäre ebenso gekränkt, wenn mir jemand meine Arbeit auf so unqualifizierte Art und Weise erklären wollte.

Ich gehe in die Küche, bereite mein Glas mit der ausgepressten Zitrone vor und dusche anschließend. Und wie es meist im Leben ist, kommt mir der entscheidende Einfall unter der Dusche. Hastig trockne ich mich ab und suche mein Tablet, um den Browser zu öffnen.

Wenig später stehe ich auf der Rolltreppe auf dem Weg nach unten zur U-Bahn. Es ist ungewohnt zwischen all den Menschen. Ein wenig wie das Gefühl, wenn man nach einem mehrwöchigen Urlaub zum ersten Mal wieder zur Arbeit fährt. Alles ist wie immer, aber es fühlt sich dennoch fremd an. Eigentlich hätte ich auch heute lieber den Bus gewählt, aber ich muss dringend etwas nachschauen und da ich ungern Privates mit Beruflichem vermische, will ich nicht zu spät kommen.

Während ich im überfüllten U-Bahn-Wagen stehe, fällt mir plötzlich der alte Mann mit seinem Rollator ein. Hat er seine Ausflugsstrecke wohl erweitert? Ist er noch einmal mit der U-Bahn gefahren? Oder hat er seine Pläne wieder aufgegeben?

Schneller als gedacht kommt die Durchsage für meine Haltestelle und ich eile die letzten Meter zum Supermarkt.
„Guten Morgen", grüße ich freundlich, als ich hereinkomme und eile sogleich zu dem Stand mit den Zeitschriften.
„Hey Robin", säuselt eine Stimme neben mir und ich sehe gar nicht auf, sondern nuschele nur ein „Hey".
„Kann ich dir helfen?", fragt Kathy und ich muss dem Drang widerstehen, mit den Augen zu rollen.
„Ich suche eine Zeitschrift", erkläre ich und blättere durch eine, die vielversprechend aussieht.
„Du suchst Rezepte?", fragt sie verwirrt.
„Ja", erwidere ich. „Pizza."
„Wir haben doch Tiefkühlpizza", macht sie.
„Aber ich brauche Rezepte."

Da ist eine, perfekt! Triumphierend ziehe ich die bunte Zeitschrift mit dem glänzenden Papier hervor.

Die 50 besten Pizzarezepte

„Super", freue ich mich und strahle Kathy an. „Danke dir!"
Ich lasse meine verdatterte Kollegin stehen und eile zur Kasse, um die Zeitschrift bei Marie zu bezahlen. Sie klebt einen Sticker unseres Supermarktes auf die Zeitschrift und kritzelt ein ‚Bezahlt' darauf, damit Mr. Granger weiß, dass ich das Produkt legal erworben habe.

•••

„Willst du Pizza selbst machen?", fragt Clark neugierig, als wir nach unserer Mittagsrunde zurück an unsere Schreibtische kommen. Er blättert interessiert in der Zeitschrift, die ich auf meinem Tisch liegen lassen habe.
„Nein... ja... vielleicht...", druckse ich herum.
„Hast du ein Date, Robin?", lacht er und ich sehe ihn mit einem verwirrten Blick an.

Geheimniskrämerisch beugt er sich zu mir und flüstert: „Ich weiß, dass deine Freundin nur erfunden ist, damit du dir Kathy vom Hals halten kannst."
„Woher–?", stottere ich.
Clark lacht.
„Hey, hättest du eine Freundin, würdest du zumindest irgendwas erzählen, was ihr unternommen habt oder wie genervt du von ihr bist."
„Hm", mache ich. „Könnte sein."
„Kein Grund, sich deswegen zu schämen", will Clark mich aufmuntern, obwohl ich mich eher auf Grund der Tatsache, dass mein Bluff bei ihm aufgeflogen ist, schäme als dafür, dass ich Single bin. Ich komme allein bestens zurecht.

„Ich bin ja auch noch auf der Suche", plappert er weiter und ich muss mich zusammenreißen, nicht genervt aufzuseufzen. Jetzt kommt gleich der Vorschlag, dass wir ja mal zusammen was trinken gehen können, denn zu zweit ist es immer leichter, Frauen kennenzulernen...

„Vielleicht gehen wir abends mal einen trinken", schlägt Clark genau in diesem Moment vor. „Zu zweit wirkt man ja doch immer lockerer und nicht so verzweifelt." Unbehagliches Lachen von Clark, gequältes Lächeln von mir. Aber er tut mir ein wenig leid und so höre ich mich sagen: „Können wir gerne mal machen, Clark."

„Cool", freut er sich und sieht wieder auf die Rezeptzeitschrift. „Ach... und hast du jetzt ein Date?" fällt ihm seine ursprüngliche Frage wieder ein. Ich schüttele den Kopf und stecke die Zeitschrift schnell in meinen Rucksack.
„Nein, ich brauchte einfach nur Pizzarezepte."
„Du weißt, dass wir eine große Auswahl an Tiefkühlpizzen haben?"
Nun rolle ich doch mit den Augen. Will mir das jetzt jeder hier erklären?
„Ja, ich weiß", entgegne ich. „Aber ich will keine Tiefkühlpizza."

•••

Als ich wenig später im Bus sitze, bin ich ungewöhnlich aufgeregt. Ich hoffe, dieser Enrico DiFranco nimmt meine Entschuldigung an. Nicht, dass es für mein Leben einen großen Unterschied machen würde, aber ich habe jetzt schon so lange darüber nachgedacht, dass es für mein persönliches Wohlbefinden eindeutig besser wäre, wenn ich diese Sache aus der Welt schaffen kann.

Sicherlich würde es über die Zeit in meiner Erinnerung verblassen, aber gerade unangenehme Erfahrungen haben die merkwürdige Eigenschaft zu den merkwürdigsten Momenten wieder ans Tageslicht zu kommen. Meistens abends, wenn man einschlafen möchte oder nachts, wenn man kurz aufwacht. Dann meint das Gehirn plötzlich, einen daran erinnern zu müssen, dass man in der dritten Klasse Jessica Donovan geschubst hat und sie sich dabei das Knie aufschlug, aber man eiskalt auf Freddy Scotts gezeigt hat und dieser den ganzen Ärger abbekam.

Als ich den Weg zum „Hexenkessel" entlang gehe, werde ich mit jedem Meter aufgeregter. Du liebe Zeit, rede ich mir innerlich gut zu. Es ist nur eine Zeitschrift.

Wie an den vergangenen beiden Tagen bleibe ich an der hüfthohen Mauer stehen und beobachte das Treiben im Inneren. Kinder spielen im Sand, fahren mit Dreirädern und Bobbycars oder spielen Fußball. Ich sehe eine dunkelhaarige Erzieherin, aber keine Spur von diesem Enrico DiFranco.

„Hey Mister", spricht mich eine Kinderstimme an. Ich sehe nach unten und vor mir steht ein kleines Mädchen mit braunen Haaren und großen braunen Augen. „Wie schmeckt grün für Sie?"
Verwirrt runzele ich die Stirn. Grün? Grün ist eine Farbe. Wieso sollte die schmecken?

„Becky", ruft die Erzieherin und das Mädchen dreht sich um, um zu ihr zu laufen. Die Frau spricht kurz mit ihr, bevor es in die andere Richtung davonläuft und dann kommt die Erzieherin mit einem skeptischen Blick auf mich zu.
„Kann ich Ihnen helfen?", fragt sie argwöhnisch.
„Ja", sage ich freundlich. „Ich suche Enrico DiFranco. Ich würde ihn gern sprechen."
Mein Herz klopft ganz schnell in freudiger Erwartung, ihm meine Entschuldigung zu präsentieren.

„Enrico hat freitags immer frei", erwidert sie knapp. „Und Sie wissen schon, dass ich die Polizei rufe, wenn Sie weiter hier herumlungern, ja?"

Wandelmut | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt