„Müssen Sie nicht zurück in den Kindergarten?", frage ich verdutzt.
„Pause", grinst er nur und setzt sich langsam in Bewegung. Verlegen folge ich ihm, um ehrlich zu sein, hänge ich immer noch bei der Insektenfrage fest. Und was ist das mit den Türen? Warum habe ich plötzlich so viele Fragen im Kopf?„Und wie haben Sie mich gefunden?", frage ich weiter.
„Hier", grinst er stolz und zeigt auf den kleinen ‚Bezahlt' Sticker auf der Rezeptzeitschrift. „So viele Supermärkte dieser Kette gibt es im Umkreis vom Kindergarten nicht. Außerdem wäre ich ein hervorragender Detektiv."
„Hm", mache ich.
„Wollen wir uns eigentlich duzen?", schlägt er vor. „Ich meine, du bist vermutlich in meinem Alter und ich fühle mich immer schrecklich alt, wenn mich jemand siezt und jetzt, wo ich deinen Namen kenne, muss ich dich auch nicht immer Brachiosaurusmann nennen."„Äh... okay...", sage ich wieder und bin verwundert, dass er die Entscheidung schon in seiner Erklärung trifft und mich duzt, bevor ich ihm überhaupt zugestimmt habe. Kurz überlege ich, ob er immer so viel redet. Ob das wohl daher kommt, dass die Kinder im Kindergarten viel reden? Muss man als Kindergärtner gern und viel reden? Ist das eine Einstellungsvoraussetzung?
„Ist alles okay?", fragt er mich und ich schaue verwirrt auf.
„Ich... mein Kopf ist gerade etwas voll", erwidere ich ehrlich.
„Mit?"
„Fragen, Gedanken, Sachen eben."
„Oh, das ist meiner auch immer", freut er sich. „Immer raus damit."
„Was?"
„Erzähl!", fordert er mich auf. „Das ist alles da drin, aber ich bin hier draußen." Er winkt tatsächlich und ich muss unwillkürlich lachen. Wieso ist er so absurd?„In meinem Kopf warst du der Velociraptormann", ist das Erste, was ich sage. Enrico sieht mich verblüfft an und lacht dann laut auf.
„Großartig! Das klingt wie ein Superheld", freut er sich. „Schurken, nehmt euch in Acht. Hier kommt Velociraptormann."
Ich lache wieder, er ist wirklich lustig.
„Okay, was noch?", will er wissen.
„Äh... reden Sie immer so viel?"
„Du."
„Was?"
„Wir waren schon beim Du. Ich bin Enrico."
„Oh, Entschuldigung", mache ich und schüttele verwirrt meinen Kopf. „Ich bin Robin."
„Nur Robin?"
„Einfach nur Robin."
„Zeig mir deinen Ausweis."
„Was?"
„Ich glaube dir nicht. Zeig mir deinen Ausweis", befiehlt er und ohne darüber nachzudenken, greife ich nach meinem Portemonnaie und ziehe meinen Ausweis hervor.„Robin Dean Harrisson", liest er vor. „Aha. Von wegen einfach nur Robin."
„Ach so", mache ich verlegen und entziehe ihm das Dokument wieder. „Ich dachte, du meinst irgendwas Besonderes."
„Das bist du doch", entgegnet er und ich schlucke kurz. Wird mein Gesicht gerade schon wieder rot? Warum sagt er sowas? An mir ist nichts Besonderes.
„Ich bin stinknormal", weiche ich aus. „Kein Superheld oder Arzt oder Retter. Ziemlich langweilig sogar."„Nun, wenn du es so definierst, bin ich ebenso langweilig", erwidert er und ich hebe meine Augenbrauen.
„Ganz bestimmt nicht", widerspreche ich ihm. „Du veränderst Leben."
Er lächelt mich an und streicht mit seiner Hand über meinen Arm.
„Ich denke, das tun wir alle."
Verlegen sehe ich auf seine Hand und er zieht sie schnell wieder zurück.„Also, nur Robin Dean Harrisson", beginnt er.
„Robin", falle ich ihm ins Wort.
„Robin Dean Harrisson", wiederholt er. „Dein Lieblingsinsekt."
Bevor ich wieder einwenden kann, dass mich alle nur Robin nennen, überlegt mein Gehirn bereits krampfhaft, welches Insekt ich wohl am meisten mögen könnte.Um ehrlich zu sein, finde ich Insekten eher abstoßend. Sie sehen nicht besonders hübsch aus, die meisten wollen Blut saugen oder sind Parasiten. Nur wenige sind nützlich, denke ich. Sicherlich haben alle vermutlich ihre Daseinsberechtigung, aber wenn ich es mir recht überlege, dürfen sie das gern ohne meine Gegenwart.
„Ich schätze, eine Biene?", entscheide ich mich schließlich. „Die sind sehr nützlich und friedfertig."
„Hm", macht Enrico. „Kein Schmetterling?"
Ich zucke mit den Schultern.
„Die sind ganz hübsch, aber aus der Nähe betrachtet, auch nur ein Viech mit einem merkwürdigen Körper. Und dann haben die noch so einen Rüssel und Motten sind ja auch irgendwie Schmetterlinge und die sind richtig widerlich. Wenn ich also Schmetterlinge mögen würde, müsste ich auch Motten mögen und die finde ich total eklig."Enrico sieht mich mit glitzernden Augen an und lächelt dabei.
„Sag nicht, du magst Schmetterlinge", sage ich entsetzt und schlage mir die Hand vor den Mund. „Oh Gott, das tut mir leid."
„Du entschuldigst dich ganz schön oft für jemanden, der gar nichts Schlimmes macht", kichert er.
„Aber... aber ich wollte die Schmetterlinge nicht beleidigen", rede ich mich heraus. „Wenn du sie magst und ich habe sie gerade so heruntergeputzt–"„Du liebe Zeit, beruhige dich, Robin", lacht Enrico. „Mich stören sie nicht, aber sie sind auch nicht meine Favoriten."
Erleichterung durchströmt mich. Ich habe ihn nicht schon wieder beleidigt.
„Nicht? Du magst auch Bienen?"
Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer bei dem Gedanken, dass wir das gleiche Lieblingsinsekt haben könnten. Wieso? Ist das so absonderlich?„Bienen sind toll, aber ich mag Libellen", erklärt er.
„Libellen?", frage ich verblüfft.
„Ja, die sind schnell und sie sind stark."
„Stark?"
„Kämpfer. Fast wie Superhelden. Sie können super sehen und haben auch noch tolle Farben. Und hallo? Dragonfly ist ja mal der ultimative Superheldenname", schwärmt er.„Wow", sage ich. „Cool. Darf ich auch–"
„Nein", fällt Enrico mir ins Wort. „Du nimmst jetzt die Biene."
Entsetzt sehe ich ihn an und er beginnt zu lachen.
„Das war ein Witz, Robin. Klar kannst du auch die Libelle nehmen."
„Nö", sage ich und verschränke die Arme vor der Brust. „Ich behalte meine Biene. Die ist wenigstens flauschig."
Enrico kichert neben mir und ich selbst muss auch grinsen.Zu meiner Überraschung stehen wir schon wieder vor dem Supermarkt und ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass meine Pause schon wieder vorbei ist.
„Ich muss wieder", brumme ich.
„Ja, Leila wartet sicher auch schon, wo ich bleibe", stimmt Enrico mir zu.
„Ja, dann... danke für die nette Pause", sage ich verlegen.
„Ich habe zu danken. Vielleicht sehen wir uns später?"Ich reiße meine Augen auf und schüttele den Kopf. Enrico sieht kurz enttäuscht aus und tritt einen Schritt zurück.
„Nein, ich... deine Kollegin hat mir gedroht, die Polizei zu rufen, wenn ich nochmal am Kindergarten gesehen werde", erkläre ich schnell.
„Oh", lacht er. „Ja, wir sind da sehr... sensibel."
„Hm", mache ich und sehe, wie Joline an der Information im Markt demonstrativ auf ihre Uhr tippt. Stand sie die ganze Zeit dort und hat uns beobachtet?„Ich habe um fünf Feierabend", sagt Enrico. „Und gehe immer durch den Nordeingang des Parks."
Verblüfft sehe ich ihn an, als er sich langsam von mir entfernt.
„Ach, und Robin?", ruft er noch.
„Ja?"
„Keine kleinen Pissoirs. Jungs müssen sich setzen."
Damit verschwindet er aus meinem Sichtfeld und ich betrete vollkommen verwirrt wieder den Supermarkt.
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Wandelmut | ✓
RomanceRobin Harrissons Leben ist einfach und strukturiert, doch ungewöhnliche Fragen von noch ungewöhnlicheren Menschen lösen einen unerwarteten Wandel in ihm aus. Gibt er der Veränderung nach oder kehrt er zurück zu seinen alten Mustern? ------------ ❝...