Ich erwache noch vor meinem Wecker und starre entschlossen an meine Zimmerdecke. Meine Träume waren gespickt mit Bildern von einem lächelnden Enrico, gesichtslosen Männern, die sich küssen, und einem Enrico, der im Begriff ist, mich zu küssen. Leider wiederholte sich der Traum immer wieder von vorn, bevor der Enrico darin mich küssen konnte und ich war überaus frustriert über diesen Umstand. Warum wiederholen sich manche Traumstellen immer und immer wieder anstatt die Geschichte zu Ende zu erzählen?
Ich stehe auf, suche mir Sachen heraus, die ich anziehen werde – die Socken bleiben noch in der Schublade – und gehe dann eilig ins Badezimmer, um zu duschen. Unter dem warmen Wasserstrahl muss ich unwillkürlich wieder an Enrico denken und auch an die Videos, die ich gestern gesehen habe. Die Gedanken lassen mich alles andere als kalt und so zögere ich nicht lange und umfasse meine pochende Erektion.
Das Gefühl meiner Hand gepaart mit der Vorstellung von Enricos Lippen und Händen lässt mich fast genauso schnell meinen Höhepunkt erreichen wie gestern Abend. Etwas verblüfft über mich selbst starre ich auf die Wasserströme, die die Überreste meines Orgasmus wegspülen und frage mich, wann ich das zuletzt so oft gemacht habe. Vermutlich zu Beginn meiner Pubertät, als es sich neu und aufregend anfühlte und schon jetzt kann ich mich nur noch bruchstückhaft daran erinnern, dass ich mich dabei ausschließlich auf das Gefühl konzentriert habe, ohne an etwas Spezifisches zu denken.
Während ich am meinem Tisch sitze und nur meinen Kaffee trinke, muss ich weiterhin unentwegt an Enrico denken. Er möchte, dass ich entspannt bin, wenn er mich küsst, aber jetzt, wo ich das breite Feld der Möglichkeiten kenne und mir sehr sicher bin, dass ich all diese Möglichkeiten gern mit Enrico probieren würde, kann ich dabei alles andere als entspannt sein.
Jedoch ist diese Unentspanntheit eine andere als noch die von gestern, als Enrico beschloss, mit dem Küssen noch zu warten. Während ich gestern nervös war, weil ich nicht wusste, was mich erwartet und ob ich es mögen würde, ist es heute eher eine Art Vorfreude. Wenn ich recht darüber nachdenke, kann ich es kaum erwarten, Enrico zu küssen.
Grübelnd kaue ich auf meiner Unterlippe und stelle viel zu spät fest, dass ich zur Arbeit muss. Zur U-Bahn muss ich rennen und erwische gerade rechtzeitig noch meinen Zug.
•••
Der Arbeitstag will einfach nicht schneller vergehen. Jedes Mal, wenn ich auf meine Armbanduhr sehe, sind gerade einmal fünf Minuten vergangen. Normalerweise macht mir das Arbeiten nichts aus. Ich mag meinen Job, er ist sicher, ich habe Zahlen und Bestellungen, die manchmal etwas knifflig sind und dafür sorgen, dass mein Kopf beschäftigt ist und ich habe nur wenig Kontakt zu anderen, jedoch nicht so wenig, dass ich mich einsam fühlen könnte.
Heute hingegen kann ich meinen Feierabend kaum erwarten.
„Hast du noch was vor?", fragt Clark mich, als wir in der Mittagspause wieder um den Block gehen. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig enttäuscht war, dass Enrico nicht wie gestern ganz unerwartet an der Information stand, aber ich verstehe auch, dass er das unmöglich jeden Tag tun können wird.„Was? Ja", erwidere ich. „Ich bin noch verabredet."
„Oh, cool", freut Clark sich. „Woher kennst du sie? Hast du so eine Dating-App ausprobiert?"
„Ähm... nein, ich habe ihn eher zufällig getroffen", entgegne ich und vergrabe meine Hände tief in meinen Hosentaschen.
„Ihn?"
Ich nicke nur und zucke dann mit den Schultern. „Schätze, ich steh mehr auf Männer", brumme ich und befürchte, Clarks Augenbrauen verheddern sich gleich mit seinem Haaransatz, so hoch zieht er sie.„Oh... okay", macht er verblüfft.
„Ist das schlimm?", frage ich ihn und er schüttelt schnell den Kopf.
„Hey, alles cool", sagt er und hebt entschuldigend die Hände. „Ich hatte nur keine Ahnung. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich nicht zu dem Gespräch mit Frannie und Angel gezwungen und... oh Gott! Sie hat dich ja auch geküsst! Das tut mir so leid, Robin."Clark schlägt sich die Hand vor die Stirn, als er sich allmählich an unseren Abend in der Bar zu erinnern scheint.
„Nicht schlimm", beruhige ich ihn. „Um ehrlich zu sein, weiß ich es auch erst seit Kurzem. Ich hab mir wohl vorher einfach nicht so viele Gedanken darüber gemacht."
Mein Kollege runzelt verwundert die Stirn, sagt zu meiner Erleichterung jedoch nichts dazu.Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her, bis er plötzlich fragt: „Also, wer ist er? Ist es der Typ, der an dem Abend mit dir auf der Bank saß?"
Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich an den Abend und natürlich an Enrico denke. Wie eine Ewigkeit kommt es mir jetzt vor, obwohl seitdem gerade einmal drei Tage vergangen sind. Trotzdem fühlt es sich für mich an, als wäre ich damals noch ein vollkommen anderer Mensch gewesen.
Damals. Vor drei Tagen.„Oh, ich nehme das als ein ja", grinst Clark.
„Was?", mache ich verblüfft.
„Robin, so wie du grinst, hat es dich ganz schön erwischt", stellt mein interessierter Kollege fest.
„Erwischt?"
„Verknallt? Verliebt? Heiß auf ihn?", kichert er.
„Ist das so?", frage ich verwirrt.
„Denkst du die ganze Zeit an ihn?"
Ich nicke.
„Und hast du kaum Appetit?"
Wieder nicke ich.
„Schlägt dein Herz schneller und du kannst es kaum erwarten, ihn wiederzusehen?"
Ein weiteres Nicken von mir.
„Ganz klarer Fall", fasst Clark wie ein Facharzt seine Diagnose zusammen. „Dich hat es erwischt."„Ist das schlimm?", will ich wieder wissen und er lacht.
„Geht es dir denn schlecht?"
Ich überlege kurz, aber um ehrlich zu sein, ging es mir schon lange nicht mehr so gut wie jetzt gerade.
„Nein."
„Da hast du es", freut er sich und klopft mir auf die Schulter. „Das Gegenteil von schlimm."Den Rest meines Arbeitstages kann ich mich kaum noch auf meine Arbeit konzentrieren. So viele Erkenntnisse innerhalb so kurzer Zeit überfordern mein sonst so grübelfreudiges Hirn, das aber gerade nur damit beschäftigt zu sein scheint, an Enrico zu denken und mir sämtliche Möglichkeiten einer weiteren Unterhaltung oder gar einer Kusssituation vorzuspielen.
Ich bin schwul und verliebt. Beides gilt ausschließlich Enrico DiFranco.
Und ich hoffe inständig, dass es ihm mit mir ebenso geht.
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Wandelmut | ✓
RomanceRobin Harrissons Leben ist einfach und strukturiert, doch ungewöhnliche Fragen von noch ungewöhnlicheren Menschen lösen einen unerwarteten Wandel in ihm aus. Gibt er der Veränderung nach oder kehrt er zurück zu seinen alten Mustern? ------------ ❝...