Ein Blick in den Abgrund III

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Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen folgte Lloyd ihr. Er achtete kaum auf die Straßen, durch die sie sich bewegten, oder was Camille ihm währenddessen sagte. Auch dass sie an seinem Arm klebte und die Muskeln unter der Kleidung befühlte, blendete er aus. Seine ganze Aufmerksamkeit verwendete er darauf, nach dem Wächter zu suchen.

Daher war er entsprechend verwirrt, als er sich auf einmal in Kastolats Rotlichtviertel wiederfand, direkt vor einem hohen Gebäude, aus dem Stimmen kamen. Säulen umrahmten die Flügeltür und trugen das überstehende Ende des Daches. Gebaut war es aus Terracotta, sodass es im Licht rötlich schimmerte. Nur wenige Risse zogen sich durch die Fassade und zeugten von der Baufälligkeit, die die meisten Häuser in Kastolat an den Tag legten.

Lloyd hätte dieses Gebäude fast schön nennen können, wüsste er nicht, was sich hinter diesen Wänden abspielte.

„Ich sollte jetzt gehen", sagte er zu Camille. In diesem Haus würde er Tavaren ohnehin nicht finden.

„Jetzt schon?", fragte sie. „Der Abend ist doch noch jung." Sie drehte sich zu dem Elfen. „Ihr seid ja ganz blass", scherzte sie und stieß ihn an der Schulter an. „Gebt Euch einen Ruck. So schlimm ist es da drinnen nicht."

„A-arbeitet Ihr dort?", fragte Lloyd vorsichtig und schalt sich innerlich, weil seine Stimme zitterte.

„Aber selbstverständlich", antwortete Camille. „Irgendwer muss es ja führen."

„Mhm..." Er traute sich nicht etwas zu erwidern. Diese Begegnung hatte eine Wendung genommen, die er nicht erwartet hatte.

Camille zog den erschütterten Elfen hinter sich her. Statt durch die große Flügeltür zu gehen, umrundete sie das Gebäude und steuerte eine kleinere Tür an der Hinterseite an.

Lloyd währenddessen wog ab, ob er sie vor den Kopf stoßen und einfach weglaufen sollte oder ob es dort drinnen eine Möglichkeit geben könnte, sich in einer Ecke zu verstecken und von niemandem gesehen zu werden. Doch diese für ihn schier unmögliche Entscheidung wurde ihm abgenommen, da Camille ihn, ohne noch einmal nachzufragen, mit sich durch die Tür zog.

Dahinter erstreckte sich ein dunkel getäfelter Korridor mit unzähligen Türen. Der rote Teppich verschlang die Schritte der Beiden, als sie eintraten.

Sie klopfte an eine der Türen und sagte: „Mina, Kiran, Schichtwechsel."

Keine Sekunde später traten ein leichtes Mädchen und ein junger Mann auf den Flur. Dem Mädchen hätte Lloyd am liebsten seinen Umhang über die Schultern gelegt, aber in Anbetracht der Tatsache, dass sie ihr tägliches Brot verdienen musste, ließ er es.

Kiran betrachtete Lloyd ein wenig zu eindringlich für dessen Wohlbefinden. Argwohn, dessen Intensität durch die Farbe seiner Augen - eines grün, das andere blau - verstärkt wurde.

Er war misstrauisch, da Camille selten jemanden durch diesen Eingang hineinließ und noch seltener hatte sie einen Elfen mit im Schlepptau.

Als Lloyd allerdings zurückstarrte, wandte Kiran schnell seinen Blick ab. Mit einer Kopfbewegung deutete er Mina an, ihm zu folgen, aber ihm schien es weiterhin, als würde der Elf ihn beobachten, selbst als dieser schon lange seine Aufmerksamkeit auf Camille gerichtet hatte.

„Der Junge sieht noch jünger aus als ich", zischte Lloyd ihr zu. Er sprach so leise, dass nur sie ihn hören konnte.

„Kiran?", sagte sie. „Der ist jetzt achtzehn. Und außerdem arbeitet er nicht wirklich hier...also... nur hinter der Bar. Ich habe ihm nur eine Schlafmöglichkeit angeboten, bis sein Onkel ihn abholt. Was eigentlich schon vor einigen Wochen hätte geschehen sollen. Aber naja, ich schulde es der Familie, also kann Kiran so lange hierbleiben, wie er möchte."

A King's TaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt