Nicht jeder Abschied heißt, es gibt auch ein Wiedersehen

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Kematian sah auf Lloyd herab. Der Körper lag schon seit einigen Minuten leblos an die Wand gelehnt, aber das Herz schlug noch.

Der Rabe blickte auf seinen eigenen Arm. Er hatte es sich nicht eingebildet. Da waren Schatten gewesen. Düsterer, dunkler Nebel, vor dem selbst er sich kurz erschrocken hatte. Doch so schnell, wie er aufgetaucht war, war er auch verschwunden und hatte nur ein merkwürdiges Kribbeln in seinem Arm hinterlassen, genau dort, wo der Elf ihn berührt hatte, dort wo er die Schatten kurz aufsteigen gesehen hatte.

Er schüttelte den Kopf und trat wieder an Lloyd heran.

„Hey", sagte er und stupste ihn leicht mit dem Fuß an. Dieses ‚leichte Anstupsen' würde zwar trotzdem einen blauen Fleck hinterlassen, aber ein Tritt hätte Knochen gebrochen.

Aber Lloyd rührte sich nicht. Er war bewusstlos geworden. Einige Sekunden lang blieb Kematian vor ihm stehen. Er könnte ihn jetzt ohne Schwierigkeiten umbringen. Keine Zeugen, keinen Kampf und ihn würde für eine lange Zeit niemand finden, da Menschen diese Elfenruine für gewöhnlich nicht betraten.

Die perfekte Gelegenheit.

Kematian kniete sich zu ihm. Die Hand schob er unter Lloyds Kinn und drückte seinen Kopf hoch. Seine helle Haut schimmerte fast im Dunkeln und die langen Haare strahlten einen silbernen Glanz aus. Blutverschmiert waren seine Lippen und sein Kinn, aber der Schönheit tat es keinen Abbruch. Kematians Blick wanderte weiter zu Lloyds Hals. Die Bissspuren. Für den Raben war es wie eine Markierung seines Eigentums. Nur dass das ‚Eigentum' in diesem Fall nicht zugestimmt hatte, ‚Eigentum' zu sein.

Er hob ihn an, einen Arm unter dessen Knie gelegt, den anderen um den Oberkörper geschlungen. Er neigte den Prinzen so, dass dessen Kopf gegen seine Schulter stieß, damit er nicht aus Versehen aus den Armen kippte.

Ein metallischen Klirren ertönte. Ein Gegenstand war aus Lloyds Tasche gefallen und kullerte in Kreisen auf dem Boden entlang, bis er gegen Kematians Stiefel stieß und zum Stillstand kam.

Der Rabe kniete sich wieder hin, legte Lloyd kurz aus seinen Armen, um den Gegenstand aufzuheben. Ein silbernes Abzeichen. Das Abzeichen, das freien Zutritt zur Stadt gewährte. Er hatte schon davon gehört, aber sich nie darum gekümmert, sich eines zu beschaffen. Für ihn reichten die Katakomben, um Kastolat zu betreten und zu verlassen, aber vielleicht wäre es trotzdem irgendwann nützlich für ihn.

Er ließ das Abzeichen in seiner Tasche verschwinden, hob den Elfen wieder an und verließ mit ihm die Elfenruine.

Es dauerte keine Stunde da waren sie an dem Eisentor des Kestrel-Anwesens angekommen. Mit der Schulter stieß er das Tor auf und betrat das Grundstück.

Keine Sekunde später stürzte ein Wolf mit lautem Knurren auf die beiden zu. Kematian schnaubte verächtlich und warf nur einen Blick auf ihn, aber sofort klemmte Dasan die Rute zwischen seine Beine und winselte kurz auf, ehe er mit einem Satz in einem nahen Busch verschwand.

Kematian hatte schon oft mit sogenannten ‚Wachhunden' zu tun gehabt. Die wenigsten von ihnen bissen tatsächlich und keiner von ihnen hatte bisher eine Gefahr für ihn dargestellt.

Der Sand knirschte unter seinen Stiefeln, als er den Weg entlang zum Herrenhaus ging. Hier und da stieß er mit der Fußspitze kleine Steinchen weg und wirbelte mit ihnen kaum sichtbare Staubwölkchen auf, die sich fast sofort wieder lichteten.

Die Monde hatten sich in dieser Nacht hinter dichten, regenschweren Wolken verborgen und spendeten kein Licht.

‚Keine Heilung'... diese beiden Worte schwirrten in seinen Gedanken. Lloyd hatte seine Antwort nicht einmal dann zurückgenommen, als er dem Tode nahe war.

A King's TaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt