Des Fremden falsche Freundlichkeit

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Am nächsten Morgen wurde Lloyd durch die Sonne geweckt, die ihm gnadenlos ins Gesicht schien. Er rieb sich die Augen. Dabei berührte er den Schorf, der sich auf der Wunde an seiner Wange gebildet hatte. Im Bruchteil einer Sekunde schossen die Erinnerungen an den gestrigen Tag auf ihn ein. Er tastete an seinem Ohr entlang und fand die Einkerbung, die der glühende Dolch hinterlassen hatte.

Es war nicht nur ein Albtraum gewesen.

Lloyd schlug die Augen auf. Der Raum, in dem er sich befand, war schlicht eingerichtet. Nur das Bett, in dem er lag, ein Spiegel und eine Kommode standen darin. Mit bleischweren Gliedern erhob er sich. Die Müdigkeit haftete noch an ihm. Ihm war, als wäre er gerade erst eingeschlafen und nun wieder gezwungen aufzustehen. Er wollte sich noch nicht wieder mit der Welt auseinandersetzen. Nicht mit der Verbannung, nicht mit seinem unausweichlichen Tod und nicht mit dem Raben, bei dem er untergekommen war.

Aber nun, da er auf seinen Füßen stand, konnte er sich nicht wieder hinlegen. Die Knöpfe seines Hemdes hatten sich in der Nacht schmerzhaft in seinen Oberkörper gebohrt. Gestern hatte er nur seine Stiefel abgestreift und war ins Bett gefallen.

Er seufzte und trat vor den Spiegel. Die Gestalt, die ihm dort entgegenblickte, war der lebende Beweis, dass Elfen nicht immer ein Inbegriff von Schönheit waren. Tiefe dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet. Sein Gesicht war noch immer schmutzig und der Schnitt, der sich quer über seine Wange erstreckte, war auch nicht sonderlich ansehnlich. In seinen Augen waren einige Äderchen geplatzt und färbten das Weiße rötlich. Sein Blick wanderte zu seinem Ohr. Die Kerbe hatte sich tiefer angefühlt, als sie aussah. Nicht einmal die Hälfte der Spitze war abgetrennt.

An seiner Kleidung haftete Schlamm. Nun war er getrocknet und bröselte bei jeder Bewegung in kleinen Stückchen ab. Der oberste seiner Hemdknöpfe fehlte. Ein Zeuge davon, was gestern hätte geschehen können. Bei dem Gedanken, dass er Kematian erneut unter die Augen treten musste, schüttelte es ihn. Vor allem, weil er ihm gestern so bereitwillig seinen Hals angeboten hatte.

Er begann, sich den Staub aus dem Gesicht zu wischen, aber je mehr er mit seinem Ärmel über die Haut rieb, desto schlimmer wurde es. Letztlich gab er auf. Dafür brauchte er Wasser.

Mit einem leisen Seufzen ging er durch das Zimmer und drückte die Klinke herunter. An drei Türen musste er vorbeigehen, ehe er zu einer Treppe kam, die in einem Bogen in das untere Stockwerk führte.

Noch einmal seufzte er und stieg die Treppe herab. Das Holz unter seinen Füßen knarzte leise. Es war sauber geschliffen und verarbeitet. Nicht grob geschnitzt oder nur als Mittel zum Zweck verwendet.

Unten angekommen konnte er schon das Esszimmer sehen. Erstarrt blieb er stehen. Den Anblick, der sich ihm bot, hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht erwartet.

Kematian war nicht allein.

Ein kleines Mädchen saß bei ihm am Tisch und löffelte Haferbrei. Lloyd schätzte sie auf kaum älter als sechs oder sieben Jahre. Ihre blonden Löckchen hatte sie hinter die Ohren geklemmt, damit sie ihr nicht ins Essen fielen.

Kematian aß nichts. Lloyd hatte sich zwar noch nie stark mit Vampiren befasst, aber er konnte sich denken, dass sie gewöhnliches Essen gar nicht vertrugen.

Kematians Blick schweifte zu ihm. Für einen kurzen Augenblick konnte Lloyd etwas sehen, das man fast als Wärme bezeichnen könnte, doch schnell versteckte sie sich hinter Gleichgültigkeit.

Die großen blauen Augen des Mädchens richteten sich jetzt auch auf ihn. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Kematian. Ihre rosigen Wangen strotzten nur so vor Sterblichkeit.

Verwirrt blickte sie zurück zu Kematian. „Pa?", fragte sie.

Pa? Der Rabe war ihr Vater? Lloyd empfand schon jetzt tiefes Mitgefühl für dieses Mädchen.

A King's TaleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt