„Warte, warte!" Milan fuchtelte wild mit ihren Händen. „Du hast seine Schwester ermordet, vielleicht auch einen seiner Freunde. Dann hast du ihn noch gebissen und gegen seinen Willen..."
„Ja, habe ich", grollte Kematian.
Das Nest war fast leer. Nur wenige Raben tummelten sich an diesem Tag in der Zuflucht, tief unter Cyrill verborgen. In dem Raum hielten sie alle meterweit Abstand von Kematian und stellten ihre Gespräche ein. Falls sie sich überhaupt unterhielten, flüsterten sie sich nur rasche Mitteilungen zu, denn eigentlich lauschten sie dem, was Milan und Kematian besprachen.
„Und dann ist er fortgelaufen?", hakte Milan weiter nach.
„Ja", antwortete er kurz angebunden und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war sich bewusst, dass sie belauscht wurden. Seine Worte waren Fressen für die Raben.
„Und das wundert dich?", fragte Milan.
„Ich habe ihm nichts getan", kam von Kematian.
Sie räusperte sich und setzte neu an: „Du hast seine Schw—"
Er unterbrach sie. „Du hast doch keine Ahnung, wovon du sprichst. Seit Jahren gibst du dich nur noch mit Raben ab." In seinem Augenwinkel huschte ein Schatten entlang. Eine Gestalt, die sich heimlich davonstehlen wollte.
„Mercer." Kematian machte eine Handbewegung, um den Jungen zu sich zu holen. Eugene zuckte bei dem Klang seines Namens zusammen, doch ängstigte ihn nicht, dass er gerufen wurde, sondern von wem. Langsam drehte er sich zu Kematian um.
„Ja?", fragte Eugene, die Stimme eine Tonlage zu hoch.
„Komm her", erneut winkte Kematian ihn zu sich. Mit eingezogenem Kopf stolperte der Junge auf ihn zu. Durch die Aufregung flatterte ihm das Herz, seine Wangen und Ohren erröteten.
Eugene setzte sich neben Milan, so weit wie nur möglich von Kematian weg, damit sie sich schützend zwischen die beiden stellen könnte, sollte der Rabe sein Temperament verlieren.
„Du weißt, worum es geht?", fragte Kematian.
Eugene konnte an diesem Punkt nur verlieren. Wenn er den Kopf schüttelte, dann log er. Wenn er aber nickte, dass wusste Kematian, dass er ihn belauscht hatte. An Eugene lag es nun, herauszufinden, was sein Gegenüber weniger erzürnen würde.
Er nickte.
Augenblicklich verdüsterte sich Kematians Blick. Der Junge würde den Preis dafür zahlen müssen... später. „Was sagst du dazu?", hakte er nach. Der Ton unterkühlt, die Miene eisern.
„Ich...", setzte Eugene an. Er sah hoffnungsvoll zu Milan, aber sie hatte sich gerade abgewandt, um eine Gruppe Nestlinge mit einem Blick zum Schweigen zu bringen. Die Raben konnten es sich nicht leisten, wenn die jungen Rekruten sich so früh schon mit Kematian anlegten.
„Ich... äh...", stammelte Eugene weiter. Jede Frage von Kematian war wie ein Schwert. Beidseitig geschärft, mit einer tödlichen Spitze und wenn man mit der flachen Seite getroffen wurde, dann brach jeder einzelne Knochen im Körper. Es gab nur falsche Antworten.
„Ich...", versuchte er es ein drittes Mal. Das Zittern in seiner Stimme war Zeuge seiner Angst, die nun, da Kematians Ungeduld anstieg, ebenfalls wuchs.
Aber der Rabe hörte seine Antwort nicht, falls Eugene überhaupt eine herausgebracht hatte. Ein Stechen bohrte sich in seiner Brust, genau dort, wo sein totes kaltes Herz lag. Der Schmerz wand sich in ihm, zerwühlte das Gewebe und fraß es.
Er ballte die Hand, die auf seinem Oberschenkel ruhte, zur Faust, bis sich seine Fingernägel in die Handfläche bohrten. In seiner Kehle stieg eine Flüssigkeit auf, die für gewöhnlich süß und lieblich in ihr herabrann. Doch nun war sie beißend, brennend... bitter.
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A King's Tale
FantasyAls der Halbelf Lloyd für einen Auftrag in den Norden geschickt wird, ahnt er noch nicht, was er damit lostritt und welche Reise er bestreiten muss. Die Menschen sind die Bösen und die Elfen die Guten, so hatte er es gelernt, seit er ein Kind war. D...