Kapitel 28

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Als ich erwachte, hatte ich ein bedrückendes Gefühl. Ich hörte nichts, absolut gar nichts. Keinen Wind, keine Insekten, keine Tiere. Ich stand auf und bemerkte, dass ich allein war.

"Amelia? Arsas? Wo seid ihr?!" Je tiefer ich in den Wald hineinging, desto schneller schlug mein Herz. "Ist hier jemand? Irgendjemand?" Ich fühlte mich völlig allein im Wald, und das ängstigte mich.

"Hope..." Ich blieb geschockt stehen, diese Stimme würde ich überall erkennen.

Ich drehte mich zu meiner Mutter um, die in ihrem weißen Nachtkleid, das sie in jener Nacht getragen hatte, lächelnd dastand. Ich schluckte den harten Kloß in meinem Hals herunter und versuchte, ruhig zu atmen.

"Nimm dich in Acht... Vertraue ihm nicht...." sagte sie. 

"Wem soll ich nicht vertrauen?"

"Du bist wunderschön, meine Tochter... so stark... pass auf dich auf, Hope."

Ich hatte Angst, mich zu bewegen, da die Gefahr, dass sie einfach verschwand, zu groß war.

"Bist du wirklich hier?" Meine Stimme war nur noch ein Flüstern, kraftlos und verzweifelt.

"Ich liebe dich...." Plötzlich kam ein starker Wind auf, und ich fürchtete, sie würde verschwinden.

"Mutter, geh nicht, bitte geh nicht! Ich brauche dich so sehr... bitte."

In diesem Moment war ich keine starke, selbstbewusste Frau. Ich war ein kleines Mädchen, das ihre Mutter vermisste, und wäre bereit gewesen, mein ganzes Leben lang hier zu stehen und sie anzusehen. Meine Mutter hörte auf zu lächeln und blickte an sich hinunter. Ich folgte ihrem Blick und musste zusehen, wie sich ihr weißes Nachtkleid blutrot färbte. Endlich bewegten sich meine Beine, und ich rannte auf sie zu, doch ich konnte sie nicht erreichen, da mich jemand von hinten am Hals packte und mich zurückhielt. Ich schrie und schlug um mich, doch dieser jemand war sehr stark. Meine Mutter sah mich an und schrie.

"Nein! Mutter! Lass mich los..." Ich spürte einen Stich mitten in meiner Brust. Als ich hinunterblickte, sah ich plötzlich, dass ich ein weißes Nachtkleid trug und ein Dolch in meiner Brust steckte. Ich drehte mich um und sah nur schwarzen Rauch. Mit Schmerzen und blutüberströmt wachte ich auf.

"Hope?!" Ich schreckte hoch und sah Arsas über mir. Panisch tastete ich meine Brust ab und sah mich dann um. Die beiden Wölfe, die hier waren, warfen mir seltsame Blicke zu, während Amelia mich besorgt ansah.

"Du hast nur geträumt, alles ist gut", versuchte Arsas mich zu beruhigen, doch ich konnte es nicht. Ich musste hart gegen die Tränen ankämpfen. Da mich jeder so ansah, hielt ich es nicht länger aus und lief einfach in eine Richtung. Die Sonne begann langsam aufzugehen, wodurch der Wald nicht mehr so dunkel war. Ich rannte so lange, bis ich schwer atmen musste. Dann setzte ich mich auf einen Baumstamm und stützte meine Ellenbogen auf meinen Knien ab. Was war das für ein Traum gewesen? Ich spürte seine Anwesenheit, noch bevor er sich neben mich setzte. Natürlich war mir Arsas gefolgt, das überraschte mich keineswegs. Irgendwie war ich froh, seine Nähe zu spüren. Er war es, der die Stille unterbrach.

"Als Trana auf den Knien und verletzt vor mir war, sah ich ihr in die Augen. Jeder wartete darauf, dass ich ihr den Kopf abschlug, doch ich sah nur diese Frau an, für die ich alles getan hätte. Ich stellte ihr nur eine Frage... Warum?!"

Ich sah ihn an und war überrascht, dass er mir das von sich aus erzählte.

"Was war ihre Antwort?"

"Ich dachte, sie würde mich wütend und hasserfüllt ansehen, doch stattdessen sah ich Trauer in ihren Augen. Sie sagte nichts, gab keinen einzigen Ton von sich. Das war das Schlimmste für mich. Ich wollte so sehr ihre Stimme hören, ein letztes Mal, doch sie schwieg."

Er sah mich an, bevor er weitersprach, und ich sah die Trauer so tief in seinen Augen, dass er mir selbst weh tat. So schwach hatte er sich mir noch nie gezeigt.

„Die Menge jubelte, weil ich einen Verräter getötet hatte. Endlich waren wir Wölfe frei. Ich war erst 15 Jahre alt gewesen. Weißt du, ich wollte nie ein Clanwolf werden. Ich wollte mit ihr eine Familie gründen, Kinder haben. Ich wollte nie töten, niemanden. Der einzige Grund, warum ich mich der Ausbildung hingab, war sie. Und jetzt ist sie tot, und ich..." Er lachte kurz auf und sah zum Himmel hinauf. Ich wusste nicht, warum, aber meine Augen füllten sich mit Tränen. Was war nur los mit mir?!

„Viele glauben, ich hätte den alten Alpha gestürzt, doch dem war nicht so. Ein anderer, kaum älter als ich, hatte sich im Eifer des Gefechts auf den Alpha gestürzt, und dieser hatte ihn einfach am Hals gepackt und zugedrückt, bis seine Augen aus den Höhlen platzten. Ich hatte die Situation nur ausgenutzt und den Alpha von hinten angegriffen. Und trotzdem hatte jeder mich gefeiert, ich hatte die 'Ehre'."

„Es tut mir so leid, Arsas." Und das meinte ich auch so, er war noch so jung gewesen und trotzdem hatte er so eine große Bürde mit sich getragen. Er sah mich leicht lächelnd an und legte seine Hände auf meine Wangen, um mir die Tränen wegzuwischen.

„Ich liebe den Sonnenaufgang, weil es das letzte war, was ich mit meinem Vater erlebt hatte. Er war das Schönste, was ich je gesehen hatte, und einen Tag später habe ich alles verloren." 

Arsas schwieg, nickte nur und strich mir immer wieder sanft über die Wangen. Dann ließ er seinen Daumen über meine Lippen gleiten und sein Blick blieb dort haften. Ich wusste nicht, was ich tun sollte; mein Körper reagierte auf nichts anderes als auf seine Berührungen. Alles in mir tobte wie ein Sturm. Ich bemerkte nicht einmal, wie er mir immer näher kam, so nah, dass ich seinen Atem auf meinen Lippen spürte. Mein Herz schlug bis zum Hals. Was war nur los? Warum entzog ich mich nicht seiner Berührung? Ich konnte es einfach nicht. "Tu es nicht, Hope," schrie mein Gehirn. "TU. ES. NICHT." Doch ich konnte mich nicht zurückziehen, also ließ ich es geschehen.

Ich schloss die Augen und spürte seine Lippen auf meinen, ganz leicht und vorsichtig. Sobald seine Lippen meine berührten, explodierte etwas Gewaltiges in mir. Zum ersten Mal küsste ich jemanden aus eigenem Antrieb, und dieses Gefühl war berauschend. Auch wenn es unsicher und sanft begonnen hatte, wurde der Kuss schnell wilder. Es fühlte sich an, als würden wir beide ertrinken und unsere Lippen wären das Einzige, was uns noch retten könnte. Ungewollt stöhnte ich auf. Für einen Moment unterbrach Arsas den Kuss und als ich in seine Augen sah, erblickte ich nichts als pure Lust. Warum machte mir das keine Angst? Warum?

Er packte mich am Nacken, hob mich mit seinem freien Arm hoch, und ich setzte mich auf seinen Schoß. Spätestens jetzt sollte ich doch ausflippen. War mir denn nicht bewusst, was hier gerade passierte? Doch statt Panik verspürte ich nur ein tiefes, unwiderstehliches Verlangen.

„Hope?"

Ich erkannte Amelias Stimme und wurde plötzlich von Arsas' Schoß geschleudert, landete unsanft auf dem Boden. Arsas stand auf und wandte sich von mir ab, ging einige Schritte mit dem Rücken zu mir. In panischer Eile rappelte ich mich auf, als ich Amelia durch die Bäume kommen sah.

„Da bist du ja, ich habe dich gesucht." Amelia hielt inne, als sie Arsas bemerkte, der noch immer mit dem Rücken zu uns stand.

„Oh, ich wusste nicht, dass der Clanwolf bei dir war."

„Wir haben nur geredet!" entfuhr es mir etwas zu hastig, was dafür sorgte das Amelia mir einen verwirrten Blick zuwarf.

„Verstehe." Sie sah zwischen mir und Arsas hin und her und schnupperte kurz die Luft, was mich noch mehr verwirrte. Dann weiteten sich ihre Augen, und ihre Panik war kaum zu überhören.

„Oh, oh mein Gott. Ähm, es tut mir leid, ich wollte das nicht, also ich werde vorne auf dich warten." Damit verschwand sie, rot wie eine Tomate, in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Verwirrt blickte ich zu Arsas, der sich inzwischen zu mir umgedreht hatte und mich verlegen ansah. „Was war das eben?" fragte ich ihn verwirrt. 

„Keine Ahnung," sagte Arsas, zuckte mit den Schultern, ergriff meine Hand und zog mich in die Richtung, in die Amelia verschwunden war. Anscheinend ging unsere Reise weiter.

HopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt