Kapitel 5

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Nachdem ich den ersten Sonnenaufgang meines Lebens mit meinem Vater geteilt hatte, machten wir uns auf den Rückweg. Meine Mutter empfing uns mit einem besorgten Gesichtsausdruck; sie schien etwas verärgert darüber, dass wir so lange unterwegs gewesen waren.

„Weißt du, Mami, morgen früh gehen wir alle zusammen", versprach ich ihr naiv.

Wir frühstückten gemeinsam, und mein Vater machte sich auf den Weg zur Arbeit. Als Bergarbeiter kam er meistens spät nach Hause, doch er nahm sich stets Zeit für mich. An diesem Abend jedoch musste er länger arbeiten als geplant, was mich traurig machte, da ich ohne seine Gute-Nacht-Geschichte ins Bett gehen musste.

„Ich kann es dir doch vorlesen, Schatz", bot meine Mutter lächelnd an.

„Nein, Mami, Vater kann das besser", entgegnete ich trotzig.

„Hmm, wieso das denn?" fragte sie gespielt beleidigt.

„Vater macht die lustigen Geräusche", erklärte ich.

Meine Mutter lachte herzlich und nickte. „Oh, das stimmt, dein Vater ist darin ein Experte. Nun gut, dann musst du wohl heute ohne Geschichte einschlafen, meine liebe Tochter." Sie beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss. „Ich liebe dich, Hope. Träume etwas Schönes, meine wunderschöne Tochter."

Ich hätte ihr antworten sollen, hätte ihr sagen müssen, dass ich sie über alles liebte, doch ich schwieg, weil ich trotzig sein wollte. In der Nacht wurde ich von einem lauten Geräusch geweckt. Gerade als ich nach meiner Mutter rufen wollte, trat sie in mein Zimmer.

„Mami, warum weinst du?"

Mit ängstlichen Augen zog sie mich aus dem Zimmer und führte mich in den Keller. „Hope, du musst mir genau zuhören. Versprich mir, dass du mir genau zuhörst!" sagte sie immer wieder, was mich zunehmend beunruhigte und zum Weinen brachte. So hatte ich meine Mutter noch nie erlebt.

„Wo ist Vater?" fragte ich ängstlich, doch sie antwortete nicht.

„Hope, sieh mich an! Sobald ich diese Tür schließe, kletterst du durch das Fenster und läufst so schnell du kannst in den Wald! Versteck dich in der Höhle, in der du einmal mit deinem Vater warst! Erinnerst du dich daran?"

Verstört nickte ich, und meine Mutter verlangte von mir, dass ich es wiederholte, was ich tat. Sie gab mir einen letzten Kuss, dann verschwand sie aus dem Keller. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Als sie die Tür schloss, tat ich nicht sofort das, was sie gesagt hatte. Ich ging zur Tür und horchte. Eine fremde Männerstimme sprach: „Na, was haben wir denn hier? Anscheinend werden wir heute doch noch Spaß haben." Der dreckige Ton seiner Stimme ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.

Ein schrecklicher Schrei, der Schrei meiner Mutter, durchdrang die Stille und hallte in meinen Ohren wider. Endlich bewegten sich meine Beine, und ich tat, was mir meine Mutter befohlen hatte. Wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, rannte ich aus dem Haus, als wäre der Teufel selbst hinter mir her.

„Ich liebe dich, Mutter", flüsterte ich, während eine Träne mein Gesicht hinabrollte. Mit einem letzten, zärtlichen Streicheln der Kette legte ich sie um meinen Hals. Wütend über meine Schwäche tauchte ich meinen Kopf in das kalte Wasser des Waschbeckens. Der schockartige Kältestrahl brachte mich zurück in die Realität. Als ich in den Spiegel sah, kämpfte ich verzweifelt gegen den Gedanken an, wie sehr ich meiner Mutter ähnelte. Ihre großen braunen Augen, die langen, glatten schwarzen Haare, die vollen Lippen und die langen Wimpern – ich hatte ihr Aussehen bis ins Detail geerbt. Die Ähnlichkeit machte mir zu schaffen; die Spiegel erinnerten mich schmerzlich an das, was ich auf grausame Weise verloren hatte. 

Nachdem ich meine Wunden so gut wie möglich versorgt hatte – schließlich war dieser dreckige Seltane verantwortlich dafür, dass sie aufgerissen waren – legte ich mich wieder ins Bett, in der Hoffnung, wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu finden. Doch kaum hatte ich mich hingelegt, durchbrach ein Schrei die Stille der Nacht. Sofort sprang ich auf, lief zum Fenster und lauschte. Es war der Schrei einer Frau. Schnell griff ich nach meinem Rucksack, versteckte ihn unter dem Bett und nahm mein Messer mit. Ich öffnete die Tür und stürmte nach draußen. Neugierige Blicke richteten sich von den Fenstern auf die Straße.

Am Marktplatz angekommen, blieb ich wie erstarrt stehen und starrte entsetzt auf die Überreste der Frau, die in grotesker Weise zerrissen worden waren. Ihre Rippen waren aufgerissen, und je näher ich kam, desto mehr stimmte etwas nicht mit diesem Bild. Trotz meines Widerwillens konnte ich meinen Blick nicht abwenden, da mich etwas stutzig machte. Nach einigen quälenden Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, erkannte ich schließlich das Unheimliche: Ihr Herz fehlte!

Eine andere Frau, sichtlich verstört und im Schock, hockte am Boden. Sie musste diejenige gewesen sein, die geschrien hatte. Um mich herum bildete sich eine Gruppe aus Seltanen und Menschen, die sich langsam dem Ort des Geschehens näherten.

„Wie schrecklich! Welches Monster könnte so etwas tun?" sagte eine Frau neben mir

„Oh mein Gott, wer macht so etwas?" fragte eine andere Frau unter Tränen.

„Das war ein Oras, was sonst!" schrie ein Seltane in die Menge.

„Nein! Das war etwas, das keiner von uns je gesehen hat", murmelte ich eher zu mir selbst. Diese Worte bestätigten sich in meinem Kopf, als ich mich wieder auf den Weg zurück machte. Ein Oras würde seine Beute nicht verschwenden und sich nicht trauen, eine Stadt anzugreifen. Und ein Saws? Auch wenn sie bekannt dafür waren, grausam zu foltern, würden sie ihre Beute nicht verschleudern und sich beim Fressen Zeit lassen. Welches Monster würde sich auch nur auf das Herz einer Beute beschränken? Auf jeden Fall keines, das mir bekannt wäre. Diese Erkenntnis ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen und bereitete mir eine unangenehme Gänsehaut. Den was nicht bekannt war, war in dieser Zeit gefährlicher als alles andere. 


„Was ist denn los?" fragte der alte Mann. Ohne ihm eine Antwort zu geben, ging ich nach oben, schloss die Zimmertür ab und verriegelte auch das Fenster.

Ein Infizierter? Das konnte nicht sein. Wäre es ein Infizierter gewesen, hätten sich sicherlich mehrere von ihnen in der Stadt breitgemacht, und es gäbe zahlreiche Leichenteile. Infizierte waren unersättlich, und ihre Gier konnte niemals gestillt werden. Zudem wurden alle Infizierte von den Wölfen gejagt und getötet. Die Wölfe taten dies nicht aus Nächstenliebe; sie erlitten selbst große Verluste, da die Infizierten in Rudeln jagten und die Wolfsdörfer angriffen. Mein Vater hatte mir gesagt, dass in den letzten 100 Jahren kein Infizierter von den Menschen gesichtet worden war. Wenn es also keine Infizierten waren, was war es dann? 

Erschöpft rieb ich mir über das Gesicht und legte mich hin. Schlaf musste einfach sein, denn jede kleine Ablenkung konnte ernsthafte Folgen haben. Also schloss ich die Augen und versuchte zu schlafen, doch das Bild verfolgte mich selbst in meinen Träumen.

**

Ich wusste, dass ich nicht allein war; ich konnte die starke Präsenz fühlen. Dennoch verhielt ich mich ruhig und tat so, als würde ich noch schlafen. Langsam suchte ich nach dem Messer, das ich unter dem Kissen versteckt hatte. Doch meine Hand griff ins Leere.

„Suchst du das hier?"

Der fremde Mann, der es offenbar geschafft hatte, in mein Zimmer zu gelangen, hielt mein Messer in der Hand. Er wusste anscheinend, dass ich nur so tat, als würde ich schlafen. Ich setzte mich auf und starrte ihn mit voller Abneigung an. In diesem Zustand wäre es sinnlos gewesen, eine Kampfposition einzunehmen; noch bevor ich richtig aufstehen konnte, wäre ich von ihm überwältigt worden. Unbeeindruckt erwiderte ich seinen Blick. Als er mir tief in die Augen sah, wusste ich sofort, wer er war!

HopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt