Kapitel 6

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Er hielt meinem Blick stand und grinste herausfordernd. Ich warf einen kurzen Blick zur Tür.

„Lass es schön bleiben, Menschen-Frau," kam es in einem tiefen, bedrohlichen Ton.

„Oder was?" knurrte ich zurück.

„Oder ich bringe dich mit deinem eigenen Messer um!"

Angewidert und voller Hass starrte ich in seine menschlichen Augen, obwohl ich wusste, dass er kein Mensch war.

„Was jetzt?" kam es von mir ungeduldig.  Wenn er mich umbringen wollte, sollte er es tun – ich hatte nicht den ganzen Tag Zeit!

„Ich habe nach dir gesucht. Dein Kampf gegen den Oras hat mich sehr... erregt, muss ich zugeben," grinste er und legte mein Messer auf den Tisch.

„Kümmer dich woanders um deine Bedürfnisse, Wolf!" zischte ich ihm drohend zu, doch das schien ihn eher zu amüsieren. Meine Reaktion schien ihm zu gefallen, was mich nur noch mehr Abstoß. Dieser Wolf war derjenige, den ich im Wald gesehen hatte. Derjenige, der es geschafft hatte, zehn Oras zu töten – beziehungsweise zehn und ein halbes, hätte Setran mich korrigiert. Natürlich hatte ich gegen ihn keine wirkliche Chance. Er war ein Wolf aus dem Clan, das war offensichtlich. Dennoch war mein Motto: Kämpfe bis zum Tod!

„Was willst du?" langsam wurde ich echt ungeduldig.

„Dich," antwortete er mit einer Ernsthaftigkeit, die mir Gänsehaut bescherte und mein Herz ängstlich schneller schlagen ließ. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, doch innerlich tobte alles. Allein der Gedanke ließ mir den Magen umdrehen und machte das Atmen schwer. Niemals würde ich zulassen, dass er mich berührte.

„Lieber sterbe ich!"

„Ja, das habe ich mir schon gedacht," grinste er erneut. In seinen braunen Augen blitzte etwas auf, als hätte er nur darauf gewartet, dass ich mich ihm widersetzte. Langsam stand ich auf, und er tat es mir gleich. Erst jetzt bemerkte ich, dass er um mindestens zwei Köpfe größer war als ich. Sein schwarzer Anzug sah frisch gebügelt aus, und seine langen schwarzen Haare hatte er zu einem Zopf gebunden. 

„Du weißt, dass du keine Chance gegen mich hast, und du weißt auch, dass dir die da unten nicht zur Hilfe eilen werden."

„Das ist mir bewusst, Wolf! Dennoch werde ich mich bis zum letzten Atemzug wehren!"

„Was anderes würde ich auch nicht von dir erwarten, Menschen-Frau." Die Art, wie er sprach, als wüsste er genau, wer ich war, machte mich wütend.

Als er langsam auf mich zukam, spannte ich mich an und wollte ihm einen Schlag verpassen. Doch noch bevor ich dazu kam, packte er mich mühelos und drückte mich gegen die Wand. Vor Schmerz schrie ich auf; verdammte Scheiße, schon wieder spürte ich das Blut, das mir den Rücken hinunterlief. Doch der Teufel möge mich holen, wenn ich mich kampflos ergeben sollte.

Ich schlug ihm mit dem Hinterkopf so fest gegen die Nase, dass ein Knacken zu hören war. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich mit den Füßen von der Wand abzustoßen. Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er fiel auf den Boden. Ich landete auf ihm, rollte mich jedoch schnell zur Seite und wollte zur Tür laufen.

Plötzlich spürte ich eine Hand um mein Bein, und im nächsten Moment lag ich auf dem Boden. Er rappelte sich auf, drehte mich auf den Rücken, was mir erneut einen Schmerzensschrei entlockte. Bevor er meine Hände fassen konnte, schlug ich ihm auf die blutende Nase und versuchte, mich zu befreien. Doch da er mit seinem ganzen Gewicht auf mir lag, war das nahezu unmöglich. Er packte meine Hände und presste sie auf den Boden. Ich wehrte mich und wandte mich unter ihm, doch es nützte nichts. Ich weiß nicht, ob es das Adrenalin war, das die höllischen Schmerzen überdeckte, aber ich konnte mich jetzt nicht auf den Schmerz konzentrieren.

„Ja, mach nur weiter so," flüsterte er mir ins Ohr. Das schien ihn noch mehr anzuregen, was mir die Galle hochsteigen ließ. Ich spürte ihn zwischen meinen Beinen und fühlte mich völlig machtlos.

„Lass mich los!" schrie ich und gab nicht auf. Immer noch versuchte ich, ihn mit meinem Knie zu treffen, doch das war unmöglich. Ich war gefangen unter ihm.

„Freiwillig oder mit Gewalt, es liegt bei dir."

Ich sah ihm mit purem Hass in die Augen. Schon allein die Tatsache, dass wir uns in diesem Zustand befanden und dass er mich berührte, drehte mir den Magen um. Ich wollte gar nicht wissen, was passieren würde, wenn er...

„Fick dich! Lieber sterbe ich!"

Er sagte nichts und starrte mich nur grinsend an, doch dann änderte sich etwas.

„Du bist wirklich eine Kämpferin, Menschen-Frau! Dafür hast du meinen Respekt."

Das Blut tropfte von seiner Nase auf mein Gesicht. Angewidert drehte ich meinen Kopf zur Seite. Plötzlich ließ er mich los und stand auf. Sofort rappelte ich mich hoch und griff nach meinem Messer. Zu meiner Verwirrung wandte er sich einfach ab, um sich das Blut aus dem Gesicht zu waschen. Das war meine Gelegenheit, doch ich war unsicher, wie ich mich verhalten sollte. Ruhig trocknete er sich ab.

Er schien keine Angst vor einem Angriff zu haben, und ich fragte mich, warum ich diese Chance nicht nutzte. Ein toter Wolf ist ein guter Wolf.

„Du solltest nicht ganz alleine im Wald leben," sagte er, immer noch mit dem Rücken zu mir. „Der Wald ist gefährlich! Du hattest Glück, dass ich da war." Seine Stimme war ruhig und ernst; kein Hauch von Spott war mehr in seinem Gesicht zu sehen.

„Ach, wirklich?" spuckte ich ihm sarkastisch entgegen.

Er nickte und sah mir tief in die Augen. Er schien etwas in meinem Blick bemerkt zu haben.  Immer noch blickte ich ihn hasserfüllt und ohne Angst an.

„Ich wollte dich nur warnen," zuckte er gleichgültig mit den Schultern.

„Ja, klar! Vorhin wolltest du etwas ganz anderes!"

„Das habe ich nicht ernst gemeint; das war nur ein kleiner Scherz," grinste er.

Wie amüsant! Ich konnte kaum fassen, dass ich einfach so mit einem Wolf sprach.

„Verschwinde," versuchte ich, bedrohlich zu klingen.

„Ich kann das Gefühl nicht abschütteln, dass du etwas gegen Wölfe hast. Dafür habe ich immerhin einen Dank verdient."

„Wofür denn, Wolf?" fragte ich spöttisch.

„Könntest du bitte aufhören, das Wort ‚Wolf' so zu betonen? Das verletzt meine Gefühle," grinste er mich an. Ich hätte ihm am liebsten dieses selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht geprügelt. „Immerhin habe ich dein Leben gerettet, Menschen-Frau," wurde er wieder ernst.

„Ich habe dich nicht darum gebeten... Wolf!" betonte ich das Wort absichtlich erneut.

Er schüttelte belustigt den Kopf und ging zur Tür. „Das ist deine Sache. Ich habe dich gewarnt." Damit verschwand er.

Es war schon schlimm genug, dass er mein Wasser verschmutzt hatte, und nun sah er sich auch noch als Retter. Ich konnte darüber nur lachen—sein Ego war noch schlimmer als seine Art. Doch Wölfe waren eben so. Sie standen an der Spitze der Nahrungskette und erwarteten, dass jeder nach ihrer Pfeife tanzte. Tief atmete ich aus und stützte mich auf den Tisch, da mir plötzlich schwindelig wurde. Auch Kopfschmerzen setzten ein; kein Wunder, die letzten zwei Tage waren sehr anstrengend gewesen. Ich ging zu meinem Rucksack und überprüfte den Inhalt—er hatte nichts gestohlen. Das war vermutlich unnötig gewesen, denn er war kein Dieb. Was machte ein Clanwolf in der Stadt? Ich musste hier weg. Es beunruhigte mich, dass er wusste, wo ich mich aufhielt. Dennoch war ich verwirrt. Er hatte mir nicht wirklich etwas getan, obwohl ich ihm die Nase gebrochen hatte. Wölfe benötigten normalerweise keinen Grund, um Menschen weh zu tun; dennoch war dieser hier irgendwie anders gewesen.

„Schwachsinn! Sie sind alle Mörder!" zischte ich in den leeren Raum und packte meine Sachen. Ich musste dringend zurück in den Wald. Dort fühlte ich mich sicher.

Der plötzliche Schmerz überwältigte mich, und ich stöhnte schmerzerfüllt auf, als ich auf die Knie fiel. Alles tat weh, und ich war so müde—ich wollte einfach nur schlafen. Doch ich musste so schnell wie möglich von hier verschwinden. Jetzt hatte ich auch noch einen Clanwolf am Arsch. Echt großartig gemacht, Hope!

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