Kapitel 25

122 11 0
                                    

Schwer atmend und blutüberströmt kniete ich vor den Leichen der Oras, deren Köpfe irgendwo hinter mir verteilt lagen. Ich blickte zurück und sah Arsas, der mit verschränkten Armen dastand und mich musterte. Das hatte er wohl nicht erwartet. Es kratzte vermutlich an seinem Ego, dass ich ihn nicht um Hilfe gebeten hatte. Ich stand auf und wischte das Blut so gut es ging ab, dann reichte ich ihm seinen Dolch, doch er griff nicht danach.

„Du kannst ihn behalten." „Ich will kein Geschenk von dir." „Es ist auch keines. Ich brauche kein Messer." Er ging an mir vorbei und ich folgte ihm. „Ich muss sagen, ich bin beeindruckt", sagte er ehrlich. „Wovon?!" „Deinen Kampfkünsten. Wo hast du gelernt, so zu kämpfen?"

Ich erzählte es ihm einfach, ohne weiter nachzudenken, und war danach selbst überrascht. „Ein Jäger hat es mir beigebracht. Nachdem das mit meinen Eltern passiert war, bin ich in den Wald geflüchtet. Als ich kurz vorm Tod stand, hat er mich gefunden und mitgenommen. Seine Familie wurde von Saws getötet, deshalb jagte er sie und wollte sie ausrotten. Er hat mir das Kämpfen gelehrt, wollte, dass ich stark bin und nicht so ende wie seine Tochter. Er wollte nichts weiter von mir, und ich war froh, dass ich so etwas lernen konnte, denn ich wollte nicht schwach sein."

„Verstehe", sagte er nur, und bis zum Zimmer schwiegen wir beide. Angekommen, legte ich beide Messer auf den Tisch und spürte plötzlich den Schmerz.

„Das ist die Nachwirkung", kam es von Arsas, der mit der gelben Salbe neben mir stand. Er strich mir die Haare zurück und schmierte sie mir auf die Schulter und den Nacken, wobei sich auch das Blut der Oras verteilte. Ich musste so schnell wie möglich baden. Er entfernte sich nicht direkt von mir, sondern sah mir nur in die Augen. Erneut dieser Blick, der tief in meine Seele zu blicken schien. Ich wusste nicht, warum ich das Folgende fragte, doch es kam einfach so über meine Lippen.

„Wie viele Menschen hast du getötet, Arsas?"

Er schien nicht überrascht über dieses plötzliche Thema und antwortete ohne zu zögern: „Keinen."

Völlig überrascht versuchte ich, in seinem Gesicht eine Regung zu finden, etwas, das mir zeigen würde, dass er log. Doch ich konnte nichts finden. Log er etwa? Nein, er hatte keinen Grund, mich zu belügen, davon war ich plötzlich überzeugt. Dann kam mir eine zweite Frage in den Sinn.

„Wie viele... Wölfe hast du getötet?" Jetzt huschte so etwas wie Trauer über sein Gesicht, doch dieser Ausdruck verflog schnell. „Ich weiß es nicht", antwortete er, schluckte hart, wich meinem Blick jedoch nicht aus. „Und du? Hast du Wolfsblut an den Händen kleben, Hope?"

Damals, als ich wieder zur Höhle ging und wochen- und monatelang, sogar jahrelang darauf wartete, dass meine Eltern zurückkamen, wurde ich wütend. Ich hatte kein anderes Gefühl in mir als Wut und Hass. Ich wollte Rache und tat alles, um es zu lindern, doch es war nicht einfach. Der erste Wolf, den ich getötet hatte, war wahrscheinlich kaum älter als zwanzig. Ich hatte ihn in der Stadt gesehen. Betrunken lief er durch den Wald und ich folgte ihm. Er bemerkte mich spät, drehte sich zu mir um und fing an zu grinsen. Er dachte, ich wäre ihm gefolgt, weil ich ihn wollte. Wankend kam er auf mich zu und ich blieb dort, wo ich war. Er packte mich an den Haaren und zog mich zu sich. Damals war ich siebzehn Jahre alt gewesen. Mein Körper war wie festgefroren, und ich ließ es zu, dass er mich küsste und an mir roch. 'Einem Wolf kannst du wohl nicht widerstehen', hatte er dreckig gelacht. Ich erinnerte mich an diese Nacht, an den Schrei meiner Mutter, zog das Messer heraus und stach ihm in den Hals. Da er in diesem Zustand nicht stark genug war, taumelte er zurück, doch für mich war es nicht vorbei. Ich sprang auf ihn und stach immer wieder auf ihn ein, bis ich keine Kraft mehr hatte. Dann, als ich schwer atmend und blutüberströmt war, ging ich von ihm runter und sah ihn an. Ich sah zu dem toten Wolf und empfand... nichts! Meine Wut und mein Hass hatten sich nicht gelegt. Ganz im Gegenteil, ich wollte nur noch mehr Blut, ich wollte sie alle tot sehen.

„Hope?!" Verwirrt sah ich Arsas an, der meine Gedanken unterbrochen hatte. Als ich weiterhin schwieg, nickte er verstehend. Weiter ging er auf dieses Thema nicht ein.

„Wieso bist du nicht zurück nach Hause gegangen? Wieso hast du dich entschieden, im Wald zu leben?" Diese Frage von ihm löste etwas Neues in mir aus. Etwas, das ich jahrelang verdrängt hatte. Ich konnte damals einfach nicht, für mich existierte dieser Ort nicht mehr.

„Der Wald ist mein Zuhause." Er verstand, dass ich nicht darüber reden wollte, und ich war ihm dankbar dafür. Ich sperrte dieses Gefühl erneut tief in mir ein, bevor es die Oberhand gewinnen konnte.

„Ich schicke Amelia" Damit verschwand er aus dem Zimmer und ließ mich alleine zurück.

***

Dann zog ich mich aus und legte mich hin. Über die Jahre hinweg war es mir nicht einmal in den Sinn gekommen, zurückzugehen. Ich konnte es einfach nicht, ich hätte das Haus nicht betreten können, ohne zusammenzubrechen! Vielleicht war das der Grund, denn falls ich dorthin zurückgekehrt wäre, hätte sich alles geöffnet, was ich tief in mir eingeschlossen hatte, und ich wusste nicht, ob ich das verkraften könnte. Nach einer Weile klopfte es an der Tür.

„Komm rein, Amelia."

Mit gesenktem Blick trat sie ein und ging schnell in den Raum nebenan, um das Wasser auszugießen. Ich stand auf und folgte ihr.

„Wie geht es dir?" 

„Gut, danke. Braucht ihr noch etwas?" 

„Nein, danke."

Als sie an mir vorbeigehen wollte, griff ich nach ihrem Arm, denn ich wollte mich entschuldigen. Doch sie stöhnte schmerzvoll auf und riss sich aus meinem Griff. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, also packte ich sie erneut am Arm und zog den Ärmel ihres Kleides hoch. Sie hatte einen blauen Fleck, und ich wusste, dass es nicht der einzige an ihrem Körper war.

„War das Tey?!" knurrte ich und ging zur Tür, doch sie warf sich regelrecht dagegen und hielt mich zurück.

„Bitte nicht, ich flehe euch an."

Sie konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, und das Einzige, was ich jetzt wollte, war, Tey tot zu sehen.

„Er verdient es nicht anders."

Sie dachte nicht einmal im Traum daran, von der Tür wegzugehen.

„Amelia! Lass mich durch!" 

„Ich bitte euch, bitte..." 

„Wieso verteidigst du dieses Arschloch?!"

„Ich habe sonst niemanden. Ich würde auf der Straße landen, bitte."

Ich ging von der Tür weg und lief auf und ab.

„Du wirst nicht mehr zu ihm zurückgehen. Ab jetzt bleibst du bei mir!" 

„Ich kann das nicht von euch verlangen, ich will euch nicht zur Last fallen." 

„Amelia, entweder du akzeptierst meinen Vorschlag, oder ich schnappe mir mein Messer und schlitze dieses Arschloch auf. Deine Entscheidung?!" 

„Ihr wollt mich wirklich bei euch haben?" Ich ging auf sie zu und war froh, dass sie aufgehört hatte zu weinen. „Du bleibst bei mir." sagte ich mit Nachdruck.  Plötzlich lächelte sie und umarmte mich.

„Ich danke euch." 

„Dir, Amelia!" 

„Verzeiht."

Lächelnd ließ sie von mir ab und sah mich dankbar an. Wenn sie in meiner Nähe war, konnte ich verhindern, dass Tey sie berührte. 

„Komm, hilf mir beim Baden."

Lächelnd gingen wir zum Badezimmer. Danach legten wir uns hin, doch der Schlaf wollte nicht kommen.

HopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt