Kapitel 17

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Die Zeit verging quälend langsam. Als nach einer Weile niemand auftauchte, stand ich auf und sah mich im Zimmer um. Ich öffnete einen Schrank und fand darin nur schwarze Kleidung.

„Tja, passend zu deiner Seele, Arsas," murmelte ich in den leeren Raum, als ich die Schranktür schließen wollte. Doch dann entdeckte ich etwas Glitzerndes aus dem Augenwinkel. Neugierig griff ich danach und zog eine Halskette hervor. Unwillkürlich fasste ich an meine eigene Kette. Arsas schien nicht der Typ Mann zu sein, der so etwas besaß. Wem gehörte sie wohl? Die Kette zeigte zwei Wölfe, die Seite an Seite standen. Ich strich sanft über das Schmuckstück. Es war schön, das konnte ich nicht leugnen. Doch war es möglich, dass sie jemandem gehörte, den er liebte? Ich schüttelte den Kopf. Dieser Wolf war sicherlich nicht fähig, zu lieben.

Ich legte die Kette zurück und schloss den Schrank, dann ging ich zum Fenster und sah hinaus. Von hier aus hatte man einen fantastischen Ausblick. Ich trat auf den Balkon und lehnte mich über das Geländer. Unten standen viele Wölfe in Menschengestalt und gingen ihren alltäglichen Tätigkeiten nach. Es wirkte alles so normal, doch ich wusste, dass nichts hier normal war. Vom Balkon aus konnte man das Meer sehen. Ich fragte mich, wie es wohl wäre, morgens aufzuwachen, auf den Balkon zu treten und einfach den Sonnenaufgang zu genießen. Wahrscheinlich wäre das das Schönste überhaupt, was man sehen könnte. Ich griff wieder nach meiner Halskette und strich sanft darüber.

„Was mache ich nur, Mom? Mache ich das Richtige?" flüsterte ich leise. Ich wusste es nicht. Doch was blieb mir sonst übrig? Was, wenn es noch mehr dieser mutierten Wölfe gab? Was, wenn sie beschlossen, die Menschen anzugreifen? Auch ohne dass Arsas es mir sagte, wusste ich, dass diese Wesen auch die Feinde der Wölfe waren. Arsas hatte sie verbrannt, damit niemand sah, was aus infizierten Wölfen werden konnte.

Als die Tür aufging, erwartete ich Arsas, doch ein fremder Wolf trat ein. „Komm!" befahl er. Ich folgte ihm, und wir hielten vor einer großen Tür, die sich sogleich öffnete. Ich trat ein paar Schritte vor und blieb stehen, um mich umzusehen. Einige Clanwölfe standen seitlich, während in der Mitte ein Thron stand, auf dem ein alter Wolf saß. Zu meiner Überraschung sah er mich nicht an, als wolle er mich in Stücke reißen. Neben ihm saß eine Frau, vermutlich seine Partnerin, und rechts von ihnen stand Arsas, der keine Regung zeigte. Ich ging weiter, bis ich in der Mitte des Raumes stand, und sah den Alpha an, den Mann, der damals den Befehl gegeben hatte, der mir alles genommen hatte! 

„Du bist also Hope," sagte der Alpha. In seiner Stimme lag tatsächlich etwas Sanftes.

„Und Sie sind also der Alpha. Ich hätte Sie jünger erwartet, Sie wissen schon, furchteinflößender," sagte ich, bevor ich mich zurückhalten konnte. Arsas warf mir einen warnenden Blick zu, doch der Alpha lachte nur.

„Tja, die Zeit bleibt leider auch für uns Wölfe nicht stehen, meine Liebe," sagte er mit einem Lächeln.  „Sag mir, warum du hier bist," forderte er mich auf, und ich kam direkt zur Sache. „Ich will alles wissen, was der Clanwolf zu euer Rechten weiß. Ich habe dieses Wesen mit eigenen Augen gesehen, und es hat jemanden getötet, der mir wichtig war. Ich möchte wissen, was hier vor sich geht, warum die Wölfe auf das Virus reagieren."

„Es tut mir leid um deinen Freund. Aber diese Informationen sind geheim. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen; die Menschen werden von uns geschützt," erwiderte er. Seine Beschwichtigungen gingen mir auf die Nerven.

„Oh ja? Wie viele infizierte Wölfe gibt es? Wie viele Wölfe gibt es in der Stadt? Und was ist mit den anderen Narmanen-Dörfern? Warum seid ihr so sicher, dass das nur eine kleine Plage ist? Ich habe gesehen, wie dieses Ding aussieht, ich habe gesehen, was es angerichtet hat. Aber das wisst ihr doch schon, oder? Die Frau auf dem Marktplatz, die zerstückelt wurde? Dieses Ding ist mitten in die Marktmitte gekommen, ohne dass es jemand bemerkt hat, und dann einfach verschwunden!"

„Nein, es ist nicht einfach verschwunden. Wir haben uns darum gekümmert, aber kamen leider zu spät, um die Frau zu retten. Auf deine anderen Fragen: Es gibt genug Wölfe, die alles unter Kontrolle haben. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen."

Ich war wütend, dass er mich erneut beruhigen wollte. Ich sah zu Arsas. Das erklärte, warum er morgens vor meinem Bett gestanden hatte. Er hatte den infizierten Wolf getötet.

„Du warst es, oder? Warum hast du die Frau mitten auf dem Marktplatz liegen lassen?" richtete ich die Frage direkt ihm. 

„Ich musste mich zuerst um das Monster kümmern. Als ich zurückkam, hatten sich die Menschen bereits versammelt. Ich musste mich verstecken, damit sie mich nicht sahen," erklärte Arsas.

Ich nickte verstehend. Das ergab Sinn. Wenn sie mitten in der Nacht einen Clanwolf gesehen hätten, hätten sie Fragen gestellt. Immerhin sollten die Wölfe sie ja um jeden Preis beschützen. Als der Alpha wieder sprach, richtete sich mein Blick  auf ihn.

„Hör zu, Hope. Ich verstehe deine Sorge, aber sie ist unbegründet. Eigentlich weißt du schon viel zu viel. Doch Arsas hat mir versichert, dass du keine Unruhe stiften wirst, und ich vertraue auf das Wort meiner Krieger. Deshalb habe ich erlaubt, dass du hierherkommst. Weitere Informationen können wir dir jedoch nicht geben."

Ich hätte jetzt stur darauf bestehen können, aber was würde mir das bringen? Zum ersten Mal wagte ich es, laut auszusprechen, was mich bewegte. Ich sah dem Alpha fest in die Augen und sprach.

„Meine Eltern wurden damals von Wölfen getötet. Ich war gerade mal neun oder zehn Jahre alt, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Ich hasse euch alle. Am liebsten würde ich euch alle tot sehen." Arsas warf mir einen warnenden Blick zu, den ich ignorierte. Immerhin drohte ich indirekt seinem Alpha. Doch dieser schien es nicht persönlich zu nehmen. „Ich habe niemandem vertraut, bin jahrelang allein durch die Wälder gewandert. Doch eines Tages fand ich endlich einen Freund, jemanden, dem ich vertrauen konnte. Ich war nicht mehr allein, und der Hass in mir schien weniger zu werden, schien Platz für andere Gefühle zu machen, wie Vertrauen. Doch dann kamt ihr wieder. ERNEUT VON EINEM SCHEIß WOLF!" Als meine Stimme lauter wurde, schloss ich kurz die Augen und sprach dann ruhiger weiter. „Er wurde mir weggenommen, er starb in meinen Armen, nur weil ... nur weil ich nicht allein sein wollte. So sehr ich es auch möchte, ich kann euch nicht die ganze Schuld geben, denn ich war es, die ihn ... Bitte! Ich möchte doch einfach nur wissen, warum mein Freund sterben musste. Die Tatsache, dass ein Narmane nur wegen einer kleinen Wunde auf so grausame Weise sterben musste, macht mir Angst! Ich möchte nicht im Dunkeln tappen, ich möchte einfach nur wissen, warum."

Als ich fertig gesprochen hatte, herrschte Stille. Nicht alles, was ich gesagt hatte, war gelogen. Aber es würde mir nichts bringen, wenn ich die Antwort kannte. Mir allein nicht. Doch wenn ich diese Informationen der Erde weitergeben könnte, könnten sie vielleicht ... Ja, was? Ich wusste nicht einmal, ob Arsas viel wusste oder nicht. Aber was sollte ich sonst tun?

Der Alpha unterbrach die Stille. In seiner Stimme lag nichts als Aufrichtigkeit. „Das mit deinen Eltern und deinem Freund tut mir sehr leid, Hope, das meine ich aus tiefstem Herzen. Aber wenn du diese Informationen möchtest, musst du ein Teil von uns werden! Wir müssen dir vertrauen können, und solltest du uns verraten..." den Satz beendete er nicht. Er warf Arsas einen kurzen Blick zu und deutete ihm mit einer Kopfbewegung an, sich neben mich zu stellen. Ich sah kurz zu Arsas, dessen Miene hart wie Stahl war, ohne die geringste Regung.

Der Alpha sprach zuerst mich an. „Hope, schwörst du, dass du uns nicht verraten wirst?"

„Ja!" antwortete ich, obwohl mich Schuldgefühle quälten. Warum fühlte sich mein Herz schwer wie Beton an? Ich hatte dem Alpha keine Treue geschworen, er war nicht mein Anführer! 

Dann wandte er sich an Arsas. „Clanwolf! Schwörst du, den Tod auf dich zu nehmen, sollte dieser Mensch, der unter deiner Obhut stehen wird, uns verratet?"

„Ja!" Arsas zögerte keine Sekunde. Ich sah ihn unsicher an. Warum hatte er mir nicht mit dem Tod gedroht? Unser beider Schwur war nicht gleich, und ich verstand nicht, warum, aber ich beschloss, diesen Gedanken vorerst zu ignorieren.

Der Alpha nickte und verkündete seine Entscheidung. „Nun gut, es ist entschieden. Hope gehört zu dir, Clanwolf. Teile mit ihr, was du möchtest. Ihr könnt gehen."

„Das war's? So schnell?!" Ich blickte verwundert zum Alpha, als Arsas meinen Arm packte, sich respektvoll verbeugte und mich mit sich zur Tür zog.

HopeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt