Kapitel 19 - Entscheidungen

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Keiner hatte mehr nach Mike gefragt. Erwins blasses Gesicht reichte aus, um zu wissen, was passiert war.

Betreten saßen sie im Schwesternzimmer und hingen ihren Gedanken nach. Auch die anderen, die nicht mitgekommen waren, konnten sich gleich erklären, was passiert sein musste.
Armin hatte den Raum gleich wieder verlassen und es Jean erzählt, welcher vor Schmerz die Augen zusammenkniff:"Wir verlieren ... Wir werden alle sterben."
"Werden wir nicht. Irgendwie werden wir das überstehen. Bestimmt kommt bald Hilfe", nuschelte Armin und biss sich nervös auf die Lippe:"Wir sind hier schließlich sicher. Das Militär wird bestimmt bald herkommen und ... na ja, aufräumen. Wenn es das nicht eh schon macht. Das ist schließlich ein großes Land, sie werden viel zu tun haben, wenn es überall sonst auch so ist."
"Erzähl keinen Unsinn. So ziemlich JEDER ist zu einem scheiß Biest geworden! Warum sollte das Militär nicht betroffen sein?", fragte Jean gereizt. Er wollte Armin nicht anschreien. Er wollte nicht wütend auf ihn sein. Aber er war nunmal wütend. Auf die Biester, die Situation, seine Hilflosigkeit ... Und er war noch immer schwer getroffen von Marcos Tod.

Für den Moment war einfach alles aussichtslos. Er war verletzt, sie verloren einen nach dem anderen, mussten jedes Mal ihre Leben auf's Spiel setzen, nur um an Lebensmittel zu kommen. So konnte es nicht ewig weitergehen. Und sie würden auch nicht auf ewig sicher sein in diesem Krankenhaus. Irgendwann würden die Biester in dieses Krankenhaus einfallen. Wer wusste, warum? Wer wusste, wann?

"Selbst, wenn du recht hast", murmelte Jean und sah auf seine Bettdecke:"Wir werden sterben bevor irgendwer uns retten kann."
"Jean ... Eren! Sag doch auch mal etwas!", sagte Armin verzweifelt und sah zu seinem besten Freund, der sich stumm zu ihnen gesellt hatte. Der Brünette zuckte mutlos mit den Schultern:"Sorry, Armin. Aber ... ich glaube auch nicht mehr daran, dass Hilfe kommt."

"Was? Aber ... Eren", stammelte Armin verzweifelt. Er selbst hatte ja kaum noch Hoffnung, aber deshalb konnte man doch nicht einfach aufhören, an das Gute zu glauben!

"Jean", sprach Eren dann:"Soll ich dir was zu Essen bringen oder meinst du, du kannst schon aufstehen?"
"Das sollte er besser noch nicht tun", erklang Lauras Stimme. Sie kam mit einem Tablett, auf dem Essen war, rein und stellte es neben dem Bett auf dem Beistelltisch ab:"Iss etwas, Jean. Du brauchst das."
"Ich habe-"
"Keinen Hunger, ich weiß", unterbrach die junge Frau ihn:"Wer hat das diese Tage schon? Aber dein Körper braucht die Energie. Iss wenigstens ein bisschen was."
Der Aschblonde sah sie an und dann auf die Suppe. Appetitlich sah das nicht aus, aber sie hatten nicht mehr den Luxus, eine Mahlzeit aufgrund ihres Aussehens zu verschmähen. Sie mussten essen, was sie bekamen. Und zur Zeit waren das vorwiegend Sachen aus der Dose.

Seufzend strich er sich durchs Haar und zwang sich ein paar Löffel der Suppe runter. Murrend legte er dann aber das Besteck zurück:"Könnt ihr bitte aufhören, mich anzusehen? Wollt ihr selbst nichts essen?"
"Ja ... doch", murmelte Eren und ging mit Armin zurück in Schwesternzimmer, wo die ehemaligen Lehrer und Erwin sich beredeten. Nur Levi fehlte. Wieder einmal.

Der Schwarzhaarige saß in seinem auserwählten Zimmer auf der Fensterbank und sah zu, wie es draußen immer Dunkler wurde. In der Ferne leuchteten große Scheinwerfer. Wahrscheinlich ein Stadion oder so etwas in der Art. Irgendwer hatte also den Strom, der nach kurzer Zeit gekappt worden war, wieder hergestellt. Wieder überkam ihn diese seltsame Unruhe, die er schon vor dem Angriff im Einkaufszentrum gespürt hatte. Nur nicht ganz so stark. Als würde der Gedanke an diese Biester reichen, um ihn daran zu erinnern, dass er wohl auch dabei war, sich in eines zu verwandeln.
Erwin hatte ihn gefragt, woher er wusste, dass die Viecher angreifen würden, doch er hatte das nur mit Intuition erklärt. Er hätte was gehört. Blabla. Unsinn. Das Einzige, was ihn den Angriff hatte erahnen lassen, war dieses Gefühl in ihm.

Als wäre dort ein Magnet, der ihn und die Biester anziehen würde.

"Verfickte Scheiße", fluchte der Schwarzhaarige leise und rieb sich über das Gesicht. Er blickte wieder zu dem Aufleuchten in der Ferne und dachte nach, ob es klug wäre, dorthin zu gehen und die Gegend auszukundschaften. Vielleicht waren das auch keine Biester, sondern Menschen. Irgendeine Art Organisation, die sich gegen die Biester wehren konnte.

//Das glaubst du ja wohl selbst nicht, Levi//, schalte er sich selbst und schüttelte den Kopf. So viel Hoffnung wagte er nicht zu haben. Und er wusste auch, dass es schwachsinnig sein würde, diesen Ort dort näher anzuschauen.

Nach fünfzehn Minuten, in denen er weiter auf das Licht in der Ferne gestarrt hatte wie eine Motte, schob er sich von der Fensterbank und packte seinen Rucksack zusammen. Er ging damit ins Schwesternzimmer, welches zu ihrem Aufenthaltsraum geworden war, und packte eine Flasche Wasser und ein paar Müsliriegel ein.

Er spürte die verwirrten, fragenden Blicke der Anderen, kümmerte sich aber nicht weiter darum bis Erwin sich räusperte:"Levi? Was wird das?"
"Ich muss mir was ansehen", sagte der kleinere und sah im Augenwinkel zu, wie sein Mann zu ihm kam:"Und was?"
"Weiter Richtung Innenstadt gibt es Licht. Verdammt viel Licht. Ich will wissen, wer es geschafft hat, hier an so viel Strom zu kommen, dass man damit wahrscheinlich ein ganzes Stadion ausleuchten kann", erklärte Levi. Erwin blinzelte:"Ist das nicht ein bisschen zu riskant und vorschnell?
"Ja", sagte Levi, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hatte nicht erwartet, dass man ihn einfach gehen lassen würde, ohne zu protestieren oder sein Handeln in Frage zu stellen.

"Wir sollten das bereden", sagte Erwin ernst:"Du wirst definitiv nicht alleine irgendwo hingehen. Du weißt, wie gefährlich das ist."

Levi seufzte und tippte sich an die Schläfe:"Schon gut."
Er setzte sich an den Tisch und wartete, dass Rico und Laura ebenfalls wieder ins Zimmer kamen. Die Jugendlichen konnten ruhig bleiben, wo sie waren.

"Also?", fragte die Krankenschwester nach und hob fragend die Augenbrauen an. Erwin räusperte sich:"Levi hat eine große Lichtquelle in Richtung Innenstadt entdeckt. Also gibt es jemanden, der an Strom gekommen ist. Die Frage ist, ob wir uns das näher angucken gehen oder nicht."
Die Runde blieb erstmal still. Hanji legte den Kopf schief:"Es wäre gut, Strom zu haben. Ein bisschen Normalität. Und ich glaube, dort ist es sicher. Diese Mutanten kämen sicher nicht an Strom, geschweige denn auf die Idee, sich welchen zu besorgen. Auf mich wirken sie nicht so, als bräuchten oder wollten sie Strom."

"Ja, den Eindruck habe ich auch nicht", stimmte Rico schnaubend zu:"Aber der Weg dorthin ist verhältnismäßig weit und sicher verdammt gefährlich."

"Davon ist auszugehen", brummte Erwin und strich sich das blonde Haar zurück:"Bisher ist es hier doch recht sicher ... Und Jean? Schafft er so ein Unternehmen überhaupt schon wieder?"
"Eigentlich wäre Ruhe besser", sagte Laura vorsichtig:"Die Gefahr ist groß, dass seine Wunde sich entzündet und wieder Fieber auftritt. Sollten wir dann unterwegs sein, könnten wir nicht viel für ihn tun. Hier sind die Möglichkeiten dafür besser."
"Ich gehe alleine", sagte Levi knurrend und zog die Augenbrauen zusammen:"Das geht eh am schnellsten als die ganze Gruppe mitzunehmen."

"Das kommt nicht in Frage", sagte Erwin sofort:"Wir werden uns nicht aufteilen und schon gar nicht alleine losziehen."

Levi rieb sich über sein Gesicht und strich sich das Haar zurück, doch die schwarzen Strähnen fielen ihm gleich wieder über die Stirn:"Scheiße, Erwin. Ich kann auf mich aufpassen. Und wenn es sicher ist, kommt ihr nach. Dann komme ich wieder her und hole euch."

"Nein", sagte Erwin mit fester Stimme:"Wir werden uns nicht trennen!"
Er konnte sehen, wie sich die Kiefermuskeln seines Mannes anspannten. Levi schnaubte:"Dann bleiben wir also hier sitzen und drehen weiter Däumchen?! Bis diese Wichser den Kackladen hier stürmen?"
"Wir warten bis Jean wieder etwas fitter ist. Lange dürfte das ja nicht dauern. Und dann nehmen wir einfach noch so viele Medikamente wie möglich mit", sagte Erwin und sah seinem Partner in die Augen. Dieser erwiderte den Blick trotzig bis er schließlich ein Knurren ausstieß:"Scheiße. Na gut. Sagt dem Idioten, dass er sich beeilen soll mit seiner Genesung!"
Er schmiss die gepackte Tasche in die nächste Ecke und lief zurück zu seinem auserkorenen Zimmer.

Als er sich dort im Spiegel betrachtete, schluckte er schwer und wandte sich schnell wieder ab. Das Schwarz war nun in seinen Augenwinkeln zu sehen.

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