Kapitel 8 oder die Sache mit dem Trost

106 14 28
                                    

Ich stand unter meinem Fenster, unter meinem eigenen, nicht unter Kageyamas und wartete auf ein Zeichen. Er wusste nicht, dass ich hier war, aber darüber war ich in diesem Moment auch recht froh. Kageyama hatte sich wie ein Häufchen Elend auf meinem Bett zusammengerollt und ich stand draußen in der Dunkelheit ein Stück vom Haus entfernt und starrte hinein.

Wenn ich wieder in meinem eigenen Körper steckte, würde ich unbedingt Vorhänge anbringen müssen. Da könnte mir wer weiß wer ins Zimmer gaffen und ich würde es nicht einmal mitbekommen. Aber im Moment war ich ganz froh über meine eigene Fahrlässigkeit, andernfalls hätte ich an der Tür klingeln müssen, ohne zu wissen, was mich drin erwartete.

Nach unserem Telefonat hatte ich mir ziemliche Sorgen gemacht und nachdem Kageyama auf weitere Anrufe nicht reagiert hatte, war ich kurzerhand hergefahren. Schon wieder. Ich hatte ein bisschen gehofft, dass ich ihn wütend antreffen würde, denn mit Wut konnte ich umgehen. Aber er wirkte überhaupt nicht wütend, sondern gebrochen und das war viel schlimmer.

Ich hatte Kageyama noch nie wirklich mit einem anderen Gesichtsausdruck als grimmig erlebt und war mir bis vor Kurzem nicht mal sicher gewesen, ob er zu anderen Gefühlen überhaupt fähig war, aber jetzt hatte ich die Antwort und wünschte mir fast seinen übellaunigen, aber immerhin nicht traurigen Gemütszustand zurück.

Vorsichtig trat ich näher an das Fenster und ging ein wenig in die Knie, um beim Springen gegen das Glas zu klopfen. Aus diesem Winkel konnte ich nicht sehen, ob sich etwas tat, aber ich wartete geduldig, bis eine halbe Minute später das Fenster geöffnet wurde. Seine Haare standen wild und ungekämmt vom Kopf ab und ich hätte schwören können, dass seine Augenlider geschwollen waren.

Mir rutschte das Herz in die Hose. Wozu war ich überhaupt hergekommen? Er wollte mich sicher nicht sehen. Aber wenn er den Trost genauso nötig hatte wie ich, dann würde ich ihn jetzt nicht allein lassen.

„Wir können zusammen weinen", sagte ich mit zittriger Stimme. Mein Lächeln geriet ein wenig wacklig, aber ich schaffte es, ihm ins Gesicht zu sehen, während er meinem Blick auswich.

„Ich weine nicht", grummelte er.

Ich ging nicht darauf ein und fragte stattdessen: „Lässt du mich rein?"

„Was sag ich deinen Eltern?"

„Wir haben ein Chemieprojekt zu erledigen."

Das war nicht einmal komplett gelogen. Kageyama zögerte trotzdem.

„Wenn du mich nicht durch die Tür lässt, werde ich versuchen, durchs Fenster zu kommen."

Sein Blick wanderte abschätzend zum Boden und er schüttelte den Kopf: „Das ist zu hoch, das schaffst du nicht."

„Also machst du mir auf?", fragte ich hoffnungsvoll.

Er schloss das Fenster und verließ mein Zimmer, woraus ich schloss, dass er sich dazu erweichen hatte lassen, mir die Tür zu öffnen. Ich lief ums Haus und musste nur wenige Augenblicke warten, bevor ich eingelassen wurde. Obwohl ich erst gestern hier gewesen war, kam es mir wie eine halbe Ewigkeit vor.

Im Flur roch es nach Essen und aus dem Zimmer der Zwillinge drangen ihre hellen Stimmen. Sie übten wohl immer noch für diesen grässlichen Kinderchor. Es war tröstlich, zuhause zu sein. Schweigend zog ich meine Schuhe aus und folgte Kageyama in mein Zimmer. Nichts hatte sich verändert und trotzdem kam es mir fremd vor. Weil es im Moment eben doch nicht mir gehörte, sondern einem Jungen, der in meinem Körper steckte und der jetzt mein Leben lebte.

„Wie geht es dir?", fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte. Nachdem er die Antwort mit Schweigen beantwortet hatte, legte ich den Kopf schief und sah ihn an. „Also gut", sagte ich, „dann fang ich eben an. Das Training war beschissen, aber ich denke, das hast du dir schon gedacht."

Herzbube ✔ [Kageyama Tobio, Haikyuu!]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt