Bekanntes bleibt unbekannt

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Am Ende der Woche wurde ich entlassen. Die Narbe am Fuß heilte gut und das MRT von meinem Kopf war unauffällig. Allerdings waren mein Fuß und Unterschenkel noch etwas geschwollen, weswegen ich eine Verordnung für manuelle Lymphdrainage mitbekam.
Erinnern konnte ich mich immer noch nicht, was mir ein bisschen Angst machte.
"Hey, oh wie ich sehe warst du schon fleißig.", Sebastian kam in mein Zimmer und umarmte mich kurz.
Ich merkte ihm an, dass er versuchte sich mir nicht aufzudrängen, was körperliche Nähe anging.
"Ja, ich kann es kaum erwarten, hier raus zu kommen.", ich reichte ihm meine Tasche mit Klamotten, die Ben mir vor ein paar Tagen vorbei gebracht hatte.
In der nächsten Zeit sollte ich bei Sebastian wohnen.
Was heißt sollte, ich wollte.
Da ich hoffte, dass es mir half mich wieder zu erinnern.
Und da Ben und Anna bis späten Nachmittag arbeiten waren, hatte ich keine Hilfe.
Sebastian hatte momentan keine Termine und bot mir an, mich bei ihm aufzunehmen.

"Alles Gute, Grace.", verabschiedete mich Schwester Ariana.
Sie war die Woche über für mich zuständig und da sie im selben Alter wie ich war, hatten wir uns ein bisschen angefreundet.
"Danke, Tschüss.", ich lächelte sie an und ging zum Fahrstuhl.
"Was haben die dir zu Essen gegeben, dass du trotz Unterarmstützen so schnell bist?", fragte Sebastian, als er im Stechschritt zu mir aufholen musste.
"Machst du schlapp, alter Mann? Und dabei bin ich diejenige, die ein Handicap hat.", stichelte ich und drosselte das Tempo etwas.
"Warte nur, bis du die Stützen wieder los bist.", drohte er mir und grinste mich an.

Zu meinem Leidwesen musste ich mit den Stützen die Treppen laufen, was ziemlich anstrengend war.
Jetzt weiß ich, wie sich meine Patienten gefühlt haben, als ich sie im Krankenhaus immer die Treppe rauf und runter gescheucht habe.
Sebastian wartete geduldig an der Tür, bis ich dann auch endlich mal, völlig außer Atem, oben war.
"Warum gibt es hier keinen Aufzug?", keuchte ich und nahm beide Stützen in eine Hand, um mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen.
"Den gibt es, allerdings ist er defekt.", er sah mich mitleidig an und öffnete dann die Wohnungstür.
"Ich bin schon mal hier gewesen, oder?", fragte ich und sah mich im Loft um. Als mein Blick auf das Sofa fiel, wurde mir plötzlich ganz warm und mein Herz fing an schneller zu schlagen.
Mein Unterbewusstsein schien das Möbelstück mit etwas zu verknüpfen. Erinnern konnte ich mich trotzdem nicht und nachfragen wollte ich dann auch nicht.
"Möchtest du etwas trinken?", fragte Seb aus der Küche.
"Ja, gerne.", ich setzte mich auf das Sofa und legte meinen Fuß hoch.
Kurz darauf kam er mit zwei Gläsern Wasser und stellte sie auf den Couchtisch.
Dankend nahm ich das Glas und leerte es bis zur Hälfte.
"Es muss für dich bestimmt voll komisch sein.", meinte ich irgendwann in die Stille hinein.
Er hatte sich mit etwas Abstand neben mich gesetzt und wirkte etwas verkrampft.
Wobei es mir auch nicht gerade anders erging.
"Hm?", gedankenverloren sah er mich an.
"Naja, du kannst dich an alles erinnern, was wir zusammen erlebt haben und weißt bestimmt auch einiges über mich. Und du bist quasi fremd für mich.", druckste ich herum. Eigentlich wollte ich nur dieses unangenehme Schweigen beenden und sprach das erste aus, was mir in den Kopf kam.
"Eigentlich nicht wirklich, es ist nur etwas ungewohnt, darauf zu achten, dich nicht zu bedrängen. Wie du schon sagtest fehlt dir ja einiges."
Ich lächelte unsicher und irgendwie tat er mir auch richtig leid.
Mir fiel im Krankenhaus schon auf, dass er sich zurück hielt, was Berührungen anging.
Er hatte es bei Umarmungen zur Begrüßung und Abschied belassen und zwischendurch beim Reden mal meinen Unterarm berührt.
Ich hoffte, dass schnell alles zurück kam.

"Ich habe ganz vergessen, Kati von all dem zu berichten. Wenn sie es schon von meinen Eltern erfahren hat, wird sie mich wahrscheinlich gleich richtig zur Schnecke machen.", wie von der Tarantel gestochen war ich dabei aufzustehen.
Wie konnte ich nur vergessen Kati zu erzählen, was passiert war. Normalerweise war sie die erste, die von allem erfuhr, was ich erlebte und genauso umgekehrt.
"Grace...", Sebastian hielt mich am Arm zurück und sah mich an. Sein Blick hatte plötzlich etwas trauriges. Fragend zog ich eine Augenbraue hoch.
"Was denn? Keine Sorge, ich überanstrenge mich schon nicht, wenn ich zu meiner Tasche hüpfe.", winkte ich ab und hob schwungvoll meinen Fuß vom Sofa.
"Das meinte ich gar nicht. Verdammt, wie sage ich es dir am besten.", er fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht.
Mein Lächeln und mein Enthusiasmus verschwanden langsam.
Sein Verhalten machte mir Angst.

"Sebastian, was ist los?", meine Stimme fing an zu zittern. Ich ahnte böses.
"Sie- es ist einiges passiert in der Zeit, in der du hier warst.", er rang mit sich, die passenden Worte zu finden.
"Jetzt rück schon raus mit der Sprache."
"Es tut mir so leid, dass du das alles jetzt noch mal durchleben musst...Kati hatte einen tödlichen Autounfall."
Bevor er überhaupt zu Ende geredet hatte, stiegen mir schon die Tränen in die Augen.
"W-was?", fragte ich ungläubig. Ich schlug mir die Hand vor den Mund um ein lautes aufschluchzen zu vermeiden.
In Sturzbächen liefen mir die Tränen die Wangen hinunter.
Deswegen bekam ich auch keine Nachrichten von Kati.
Sebastian rutschte näher und nahm mich in den Arm. Er wog den Oberkörper sachte hin und her, während er meinen Kopf an seine Brust gedrückt hielt.
"Es passierte vor drei Wochen. Ein besoffener Autofahrer hatte sie erwischt. Wir sind zusammen nach Deutschland geflogen und waren bei der Beisetzung.", er strich mir beruhigend über den Rücken.

Es dauerte etwas, bis ich mich wieder beruhigt hatte.
Die ganze Zeit über erzählte er mir Dinge, die wir in Deutschland erlebt hatten. Erinnern konnte ich mich allerdings nicht.
Wenn sogar der Tod meiner besten Freundin aus meinem Gedächtnis verschwunden war, musste die Amnesie wohl schlimmer gewesen sein, als anfangs gedacht.
Oder mein Unterbewusstsein versuchte mich zu schützen.
Der Tod einer geliebten Person kann schließlich auch schon ein Trauma auslösen.
Ich fühlte mich richtig schlecht.
Nicht nur, dass ich mich nicht mehr an Sebastian erinnern konnte, sondern sogar Kati vergessen hatte.
Als ich Anstalten machte ich von ihm zu lösen, ließ er mich frei.
Am liebsten hätte ich mich in meinem Zimmer verkrochen.
Ich spürte Sebs Blick auf mir, während ich angestrengt auf die Tischplatte starrte und nachdachte.

Am Montag fuhr Sebastian mich zur Physiopraxis, damit ich mir Termine holen konnte, für manuelle Lymphdrainage.
"Hallo Grace!", begrüßte mich die Dame an der Rezeption freudig.
"Ich dachte, du wärst schon in Deutschland."
Überfordert sah ich zu Seb, der glücklicherweise das Erklären übernahm.
"Oh Gott, das tut mir leid. Ich hoffe, es kommt alles schnell wieder.", sie warf mir einen mitfühlenden Blick zu und plante mir dann meine Termine.
Der erste war schon morgen Vormittag.
Dankend verabschiedete ich mich wieder und war schon dabei zum Auto zurück zu gehen, als Sebastian mich zurück hielt.
"Komm, ich lade dich auf einen Kaffee ein. Ich weiß auch schon den perfekten Ort dafür.", zuversichtlich grinste er mich an.
Ich runzelte die Stirn, folgte ihm dann aber.

Unser Weg führte in ein Café in einer ruhigeren Gegend.
Als wir an einem Tisch am Fenster saßen, ließ er mir gar keine Zeit die Menükarte anzusehen, sondern bestellte stattdessen für uns.
Wenig später kamen drei verschiedene Stücken Torte: Apfelkuchen, Schoko-Kirsch und Moccatorte.
Etwas verwirrt war ich schon, dass er mir gar keine Zeit zum aussuchen ließ.
"Wir waren schon mal hier.", löste er auf "Da haben wir genau das hier bestellt und uns die Kuchenstücke geteilt. Ich dachte, dass es vielleicht deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen könnte."
Er schob mir den Teller mit der Schokotorte hin, während er sich den Apfelkuchen griff.
Ich nahm ein Stück und ließ den Geschmack auf der Zunge zergehen.
Nichts.
Auch nicht, als wir die Teller weiter durch tauschten.
"Ist was?", fragte ich skeptisch, nachdem ich mich nach einiger Zeit beobachtet fühlte.
"Nein, ich sehe dich nur gerne an.", er lächelte leicht.
Schnell senkte ich den Kopf wieder, als ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen schoss.
Konzentriert sammelte ich die Äpfel aus dem Kuchen und legte sie an den Rand.

"Das hast du beim ersten Mal auch schon gemacht."
"Mache ich immer.", gab ich schulterzuckend zurück und konnte gerade noch rechtzeitig meinen Teller weg ziehen, bevor Seb sich hätte eine Apfelschnitze klauen können.
"Letztes Mal hast du mir eine gegeben.", er sah mich mit einem Dackelblick an.
"Das glaube ich nicht.", ich zog eine Augenbraue hoch.
"Wenn du das nächste mal etwas stibitzen möchtest, darfst du vorher nicht hinsehen. Dein Blick hat dich verraten.", belehrte ich ihn und steckte mir ein Stück Apfel in den Mund.
Genüsslich kaute ich darauf herum.
Amüsiert beobachtete ich Sebastian, wie er sehnsüchtig die Frucht ansah.
Ich ließ mich erweichen und überließ ihm einen Apfel. Dabei beobachtete ich ihn, wie er in seinem Mund verschwand. Er hatte eine schöne geschwungene Oberlippe.
Schnell sah ich weg und musterte angestrengt die Blumen auf der Fensterbank
Er hatte meinen Blick bemerkt, wie ich ihm so auf den Mund starrte. Aus dem Augenwinkel konnte ich sein Schmunzeln erkennen.

Hey ihr Lieben! Tut mir furchtbar leid, dass ihr so lange warten musstet. Ich hatte Staatsexamen und dann fing ich an zu Arbeiten und bin irgendwie nicht mehr zum Schreiben gekommen. Verzeiht mir 🙈 da ich mich mittlerweile etwas eingegroovt habe, werde ich hoffentlich wieder mehr Zeit finden.
Danke für die vielen Aufrufe und Stimmen, sowie Kommentare ❤️

Man sieht sich immer zweimal im Leben Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt