1. Fairwood

87 6 1
                                    

Der Wald flog am Fenster des Wagens vorbei, in dem das dunkelhaarige Mädchen saß. Ihre braunen Augen beobachteten das Farbspiel. Grün. Braun. Blau. Ein Mix aus allem. Ihr Kopf war leer, wie schon so oft in den letzten Wochen.
Ein großer, stämmiger Mann fuhr den Wagen, neben ihm eine zierliche Frau, wunderschön und so zart wie eine Blüte.  Er beobachtete das junge Mädchen immer mal wieder kurz im Rückspiegel, um sicher zu gehen, dass sie auch tatsächlich dort war. Im Auto herrschte  Stille, nur das Radio lief leise, kaum zu hören. Ein bekanntes Lied ertönte daraus, doch er wusste nicht mehr, wie es hieß. Die Frau sah kurz zu ihm. Sie wusste, er dachte genauso wie sie an das Mädchen, was so still hinter ihr saß. Katy Night. Ihren Namen hatte sie von ihr bekommen, denn sie trug keinen. Keiner der beiden konnte sich wohl vorstellen, wie sie sich gerade fühlte.  Einsam? Verlassen? Sie wussten es nicht.

Katy aber fühlte nicht viel, außer eine nicht endende Leere tief in sich. Sie kannte die beiden nicht. Sie wusste, ihre Namen waren Tristan und Grace, doch sie verband nichts mit ihnen. Ihre älteste Erinnerung war mit diesen beiden verbunden, das war mittlerweile mehrere Wochen her. Sie war im Krankenhaus aufgewacht und das erste was sie sah, war das Gesicht von Grace. Das erste was sie hörte, war sie sanfte, warme, helle Stimme dieser Frau. Sie stellte sich als ihre Tante vor, die Schwester ihres Vaters. Katy erinnerte sich genau an ihre traurige Miene, als sie ihr verkündete, dass ihre Eltern tot waren. Doch sie selbst fühlte nichts. Sie wusste nicht mehr, dass sie Eltern gehabt hatte. Sie wusste nicht mehr, wer sie überhaupt war.

Grace wusste nichts von ihr. Ihr Vater und sie hatten sich wohl vor sehr langer Zeit zerstritten, lange vor ihrer Geburt. Daher konnte sie ihr nicht sagen, wer sie nun war oder wie ihr Name war. Es schien ganz so, als ob sie vorher nicht existiert hätte. Deswegen gab ihr Grace ihren Namen, Katy. Der Klang war ihr noch nicht vertraut, doch war es besser als gar nichts. Ein Name gab einen das Gefühl,  wahrhaftig zu existieren.

Nach mehreren Stunden  Fahrt durchbrach Tristans Stimme die Stille.
"Wir sind da. Das, Katy, ist Fairwood. Dein neues Zuhause", verkündete er und sah in den Rückspiegel. Katy sah auf und ihr Blick begegnete seinen, ehe sie sich zu einem leichten Lächeln zwang und nickte. Zuhause. Was bedeutete dies wohl? Ihr Blick glitt wieder aus den Fenster. Häuser glitten nun vorbei, meist in einem warmen Gelbton gestrichen. In den Vorgärten konnte man hin und wieder jemanden entdecken, aber sonst war die Stadt wie ausgestorben. Ein großer Kontrast zu Ottawa, der Stadt, wo sie aufgewacht war.

Tristan hielt an an einem Haus, welches in einem hellen Blau gestrichen war. Im Vorgarten sah man verschiedene Blumen, welche in allen Farben strahlten. Es sah geradezu idyllisch aus. Langsam öffnete Katy die Tür des Autos und stieg aus. Die Luft war warm,  es war ein schöner Sommerabend und es roch nach Blumen und Essen. Langsam atmete sie durch, ehe sie Grace in das Haus folgte, während Tristan die Koffer aus dem Auto holte.

Es sah freundlich aus, schon im Eingangsbereich.  Hell und einladend. Langsam zog sie sich die Schuhe aus. An den Wänden hingen Bilder von Grace und Tristan, zusammen mit ihren beiden Kindern.  Katy hatte bereits von ihnen gehört. Der Junge, Julian, war in ihrem Alter und fuhr leidenschaftlich gern Motorrad. Das Mädchen, Alice,  war aufgeweckt und hatte jede Woche ein anderes Hobby. Ganz normale Jugendliche in einer ganz normalen Familie.

Katy biss sich auf die Lippe. Sie passte nicht in das Bild und doch hatten sie sie mit zu sich genommen. Wahrscheinlich aus Mitleid, weil sie nirgends sonst hin konnte. Die Eltern ihres Vaters sind bereits verstorben und von der Seite ihrer Mutter waren keine Verwandten bekannt.
"Komm, ich zeig dir dein Zimmer. Wir haben es eingerichtet, als wir erfahren haben, was passiert war. Alice hat das dekorieren übernommen",  erzählte Grace und sie führte sie die Treppe hinauf, welche aus einem hellen Holz bestand, zu einer Tür ganz links in der Ecke. Langsam öffnete sie diese und offenbarte ein großes, helles Zimmer. Die Wände waren lavendelfarben und es gab ein großes Fenster, auf dessen Fensterbrett Blumen standen. Das Bett stand  an der Wand daneben, es war mit hellgrüner Bettwäsche bezogen. Ansonsten befanden sich noch ein großer Schrank,  ein Regal und ein Schreibtisch im Raum.
Katy sah dankend zu Grace und schenkte ihr erneut ein lächeln. 
"Das ist schön, danke", sagte Katy leise. Dies war das erste Mal, seit sie das Krankenhaus verlassen hatten, dass sie sprach. Ihre Stimmewar leicht kratzig, aberdas würde vergehen, wenn sie erstmal etwas getrunken hatte.

Die Frau hatte nichts anderes erwartet. Katy sprach nicht viel, sie war zurückgezogen. Das sollte wohl unter den Umständen nicht verwunderlich sein.  Sie sorgte sich um Katy, ihr Bruder hatte sie viel zu lange aus dem Leben seiner Tochter ausgeschlossen.
"Ich lass dich dann mal allein, damit du dich umsehen kannst und die Sachen einräumen kannst, welche wir gekauft haben", sagte sie ruhig und sanft. Grace hatte noch immer Angst, sie zu verschrecken. Ihr Mann brachte gerade den Koffer in das Zimmer, zusammen mit der Reisetasche. Kurz wechselten sie einen Blick, ehe sie Katy allein ließen und in die Küche gingen.

"Alice und Julian sollten bald wieder da sein", bemerkte Tristan langsam, als er sich setzte und seine Frau betrachtete. Er wusste genau, wie sehr es sie beschäftigte, was mit ihrer Nichte geschehen war. Sie war die sanfteste Person, die er kannte und dafür liebte er sie.
"Ich denke, Katy wird damit fertig werden...ich hoffe es. Alice kann manchmal...zu viel sein", sie zögerte leicht und er strich  ihr über den Arm.
"Keine Angst, sie packt das schon", versuchte er seiner Frau Mut zu machen und küsste sanft ihre Stirn.

Herz Des MondesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt