Nähe

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"Ist das für dich in Ordnung?", fragt Ruby, die eines Nachmittags ihre Hand auf den Oberschenkel ihrer Freundin Ella legt. Ruby hat natürlich schon bemerkt, dass ihre Freundin ganz offensichtlich ein Problem mit Nähe und Berührungen hat. Die siebzehnjährige nickt und lächelt ihre Freundin an. "Willst du mir vielleicht davon erzählen?", fragt Ruby vorsichtig. Das Lächeln auf dem Gesicht von Ella erstarrt augenblicklich. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht bedrängen.", sagt Ruby traurig. Ella nimmt die Hand ihrer Freundin in ihre Hände und lächelt, aber ihre Augen lächeln nicht mit und Ruby sieht das. "Du musst mir nichts vorspielen, ich sehe dass ich dich bedrängt habe. Es tut mir leid.", flüstert Ruby. Ella ist hin und hergerissen. Einerseits möchte sie ihre Freundin berühren und ihr Nähe geben, denn das ist das, was man in einer Beziehung eben tut. Aber sie kann es nicht, denn das Trauma sitzt zu tief. Vielleicht sollte sie doch mit jemandem darüber reden, aber mit wem? Ihre Mutter würde am Boden zerstört sein und wahrscheinlich wieder anfangen zu trinken. Finn würde keine Ruhe geben, bis er den Typen gefunden hat und ihn verprügelt hat oder sogar schlimmeres. Ella hat keine Lust, ihren älteren Bruder, ihren einzigen Verbündeten, im Gefängnis zu besuchen. Mit ihrer kleinen Schwester kann sie darüber garantiert nicht reden, denn sie ist erstens zu klein dafür, zweitens würde sie es nicht verstehen und drittens haben sie kein besonders gutes Verhältnis. George hätte sie verstanden, er hätte seine Enkelin beschützt. Aber bevor sich die siebzehnjährige wieder total in ihrer Trauer verliert, konzentriert sie sich wieder auf Ruby. Ob sie mit ihrer Freundin reden sollte? Ruby würde das nicht verstehen oder sie würde sich vor ihrer Freundin ekeln. Wahrscheinlich würde sie Ella verlassen und dann wäre sie wieder alleine.

Langsam nähert sich Ella ihrer Freundin. Vorsichtig legt sie ihre Hand auf die Hand von Ruby. Die beiden Teenager schauen sich tief in die Augen. "Ich liebe dich.", flüstert Ruby. Ella formt mit ihren Fingern ein Herz und lächelt. Das bedeutet Ruby mehr, als alles andere auf der Welt. Vorsichtig legt Ella ihre Lippen auf die Lippen ihrer Freundin. Die beiden küssen sich und durch den Körper von Ella schießen mindestens fünf Millionen Glückshormone. Nach dem Kuss umarmt Ruby ihre Freundin, denn sie kann sich vorstellen, wie schwer es Ella gefallen sein muss. In diesem Moment fühlt sich Ella zum ersten Mal so richtig frei, als könnte sie alles erreichen. Auch Ruby fühlt sich schwerelos, dieser Moment ist einfach so perfekt. "So muss sich Liebe anfühlen.", flüstert Ruby mit einer sehr sanften Stimme. Ella lächelt ihre Freundin an und hofft, dass sie nicht ganz so bescheuert aussieht. Ruby bemerkt die Unsicherheit ihrer Freundin sofort und lenkt sie ab. "Was hältst du davon, wenn wir zu McDonald's gehen und danach Shoppen?", fragt Ruby. Ella schaut ihre Freundin fassungslos an und im nächsten Moment fangen beide Mädchen an zu lachen. Ella lacht lautlos, aber Ruby findet es wunderschön. 'Wie wäre es mit Sex and the City und dazu trinken wir Prosecco?', schreibt Ella auf einen Zettel. Wieder lachen die beiden Mädchen und Ella rutscht ein leises Lachen heraus. Das Lächeln von Ruby erstarrt und sie schaut ihre Freundin mit großen Augen an. Auch Ella scheint irgendwie darüber erschrocken zu sein, dass sie überhaupt noch eine Stimme hat. Sie kann sich kaum noch an ihre Stimme erinnern. Auch diese Situation ist Ella natürlich super peinlich, also versucht Ruby, ihre Freundin abzulenken. "Hast du als Kind eigentlich auch die wilden Kerle geschaut?", fragt sie und Ella grinst. Natürlich hat sie die Filme gesehen, sie musste sie sich immer mit Finn anschauen und irgendwann fand sie die Filme so toll, dass sie sich alle Filme in regelmäßigen Abständen anschaut, außer den sechsten Teil, den fand sie nicht so gut. Die beiden Teenager schauen also die wilden Kerle und fühlen sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie liegen in Ruby's Bett und nach einer Weile nimmt Ella die Hand ihrer Freundin. Ruby freut sich total darüber und lächelt ihre Freundin glücklich an. Auch Ella lächelt überglücklich.

"Ich würde dich gerne etwas fragen, aber ich habe Angst, wie du auf diese Frage reagierst. Ich will dir damit auch nicht zu nahe treten oder so.", sagt Ruby nach ein paar Minuten. 'Du kannst mich alles fragen, was du willst.', schreibt Ella auf einen Zettel. "Und du bist dir wirklich sicher? Ich will dich nicht triggern oder so. Kann ich dich das wirklich fragen?", fragt Ruby unsicher. Ella nickt, obwohl sie mittlerweile etwas Angst vor dem hat, was ihre Freundin fragen möchte. "Naja, du schreibst ja alles mögliche auf Zettel oder wir schreiben auf WhatsApp. Ich wollte dich fragen, ob du irgendwann mal sprechen möchtest. Du musst es natürlich nicht, aber ich wollte das einfach mal so fragen. Würdest du irgendwann vielleicht sprechen, wenn du soweit bist?", fragt Ruby nervös. Auf diese Frage hat Ella schon länger gewartet. Die siebzehnjährige hat sich schon länger Gedanken darüber gemacht, ob sie nicht vielleicht irgendwann mal wieder sprechen sollte. Schließlich weiß sie ja gar nicht, ob sie es überhaupt noch kann. Jahrelang hat sie es durchgezogen und mit niemandem gesprochen. Das Mädchen hat etwas Angst vor den Reaktionen der anderen, wenn sie plötzlich wieder anfängt zu sprechen. Viele haben sie nur als das stumme Mädchen kennengelernt und haben sich mehr oder weniger daran gewöhnt. Auch Ella hat sich daran gewöhnt und sie kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, wie es werden würde, wenn sie jetzt wieder anfängt zu reden. Ihre Mutter und ihre Geschwister würden sich mit Sicherheit darüber freuen, aber was ist mit denen, von denen sie mehr oder weniger gemobbt wird? Würden diese Idioten sie dann noch mehr mobben? Was würde George dazu sagen? Obwohl sich Ella eigentlich sicher ist, dass ihr Opa sich wünschen würde, dass es ihr wieder besser geht und dass sie anfängt zu sprechen. Aber im Moment ist sie einfach noch nicht soweit und die Frage hat sie schon ein bisschen überfordert.

"Hey, es tut mir leid dass ich dich gefragt habe. Habe ich dich damit überfordert?", fragt Ruby und fühlt sich schuldig. 'Ein bisschen. Es ist aber nicht deine Schuld.', schreibt Ella auf ihren Zettel und nimmt die Hand ihrer Freundin. Ruby fühlt sich ein kleines bisschen besser, aber sie wünscht sich auch, dass sie diese Frage noch nicht gestellt hätte. "Ich wollte dich echt nicht triggern. Es tut mir so leid. Ich hätte dich nicht fragen sollen.", flüstert Ruby. 'Es ist nicht deine Schuld. Früher oder später hättest du das eh gefragt und ich habe ehrlich gesagt schon mit dieser Frage gerechnet. Ich weiß nicht, ob ich irgendwann wieder anfangen werde zu sprechen. Ausgeschlossen ist es natürlich nicht, aber momentan bin ich einfach noch nicht soweit. Gib mir bitte ein bisschen Zeit.', schreibt Ella. "Natürlich gebe ich dir die Zeit, die du brauchst. Du kannst alle Zeit dieser Welt haben. Ich liebe dich.", sagt Ruby und ist erleichtert, dass Ella sich nicht zurückzieht. Ella nimmt ihre Freundin in den Arm und lässt sie die nächsten Minuten auch nicht los. Als Ruby ihre Freundin am Abend nach Hause bringt, knutschen die beiden Teenager vor der Haustür von Ella. "Passt auf, dass ihr nicht aneinander kleben bleibt.", bemerkt Finn, der auch gerade nach Hause kommt. Die beiden Freundinnen grinsen verlegen und Ruby macht sich schnell auf den Heimweg. Als Ella im Haus ist, umarmt Finn seine jüngere Schwester. "Ich bin so froh, dass du endlich wieder glücklich bist.", ruft er begeistert und führt einen kleinen Freudentanz auf. Ella schüttelt den Kopf und muss lachen. Manchmal ist ihr Bruder ziemlich verrückt.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt