Ella's Schmerz

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Bis vor sechs Jahren war Ella ein glückliches Kind und alles war gut. Niemals hätte sie gedacht, dass dieses Leben so schnell auf den Kopf gestellt werden würde. Aber dann ist ihr Opa George gestorben und er war der einzige Mensch außer Finn, den sie wirklich geliebt hat. Er war der tollste Mensch, den sie bis jetzt kennenlernen durfte. Als die beiden Geschwister noch klein waren, durften sie mit seiner Beinprothese spielen und sie haben gemeinsam Brot mit Erdnussbutter gegessen. Danach haben Finn und Ella ihrem Opa einen Kuss auf die Wange gegeben und er hat mit verschmierten Wangen gelacht. Als Ella gerade zwei und Finn vier Jahre alt war, hatte ihr Opa den zweiten Schlaganfall und diesmal ging es nicht so gut für ihn aus, wie beim ersten Mal. Beim ersten Mal war er nur zwei Tage lang verwirrt, konnte danach aber alles genauso gut wie vorher. Diesmal war es viel schlimmer. Er konnte nicht mehr sprechen und den größten Teil seines Körpers nicht mehr bewegen. Er konnte nur noch seine rechte Hand und den Arm ein kleines bisschen bewegen. Obwohl die Kinder noch so klein waren, haben sie verstanden, dass sich ihr Leben von jetzt an massiv ändern wird.

Eine Pflegekraft kam dreimal am Tag vorbei und hat ihre Oma, ihre Tante und ihre Mutter bei der Pflege unterstützt. Sie hat den Frauen beigebracht, den großen und schweren Mann, der früher einmal sehr stark war, richtig zu lagern. Am Anfang konnten sie ihn auch noch zu zweit auf die Toilette bringen, aber nach zwei Stürzen mussten alle Beteiligten einsehen, dass er es in diesem Zustand nicht mehr schaffen würde. Das war allen Erwachsenen unangenehm,  aber am schlimmsten hat es George getroffen. Er war Sanitäter bei der Bundeswehr und hat in seinem Leben viel Gutes getan. George hat vielen Menschen das Leben gerettet und jetzt musste man sich um sein Leben kümmern. Finn erinnert sich bis heute an die Geschichten aus Afghanistan, die er ihnen immer erzählt hat. Ella kann sich nicht mehr daran erinnern, sie war noch zu klein. Außerdem hat Dana ihrem Vater immer verboten, den Kindern solche Geschichten zu erzählen, obwohl die Geschichten aus der Sicht von Finn gar nicht mal so schlimm waren. Die Geschichten haben nur gezeigt, dass George ein Held war. Und von jetzt an musste George gepflegt werden, obwohl er früher andere gepflegt hat. Am Anfang war es sehr schwierig für alle, denn George hat sich total gegen die Pflege gewehrt.

Nach ein paar Monaten wurde es besser und er hat langsam akzeptiert, dass er für den Rest seines Lebens in diesem Bett liegen wird. Er hat dem Schicksal verziehen und irgendwie haben sich alle mit der Situation abgefunden. Ella und Finn konnten sich wahrscheinlich am ehesten mit der Situation abfinden, denn für sie war er immer noch ihr Opa, auch wenn er jetzt nicht mehr so viel konnte wie früher. Sie haben immer noch ihren Opa gesehen und nicht seine Erkrankung, wie viele andere das getan haben. Die Nachbarn zeigten Mitleid und das war das Schlimmste, was sie hätten machen können. Alle bedauerten George, seine Frau und die ganze Familie. Als Dana ein paar Wochen nach diesem Schicksalsschlag mit ihren Kindern einkaufen war und eine ältere Dame ihr Mitleid ausgesprochen hat, hat Dana einfach nur dagestanden und geweint. Die beiden Geschwister haben vielsagende Blicke ausgetauscht. "Er ist immer noch unser Opa, auch wenn er nicht mehr das kann, was er früher gemacht hat. Opa ist ein toller Mensch und wir haben ihn immer noch lieb.", erklärt Finn der älteren Dame. Sie fasst sich an die Brust und ist den Tränen nahe. "Ihre Kinder verstehen mehr als man denkt.", flüstert sie Dana zu. Die junge Mutter lächelt und nickt. "Die beiden sind etwas Besonderes.", flüstert sie der älteren Dame zu. "Du scheinst wirklich etwas ganz Besonderes zu sein. Leg das bitte nie ab.", sagt die ältere Dame zu Finn, während sie sich zu ihm bückt und seine Wange streichelt. Der Junge schaut erst die ältere Dame, dann seine Schwester und schließlich seine Mutter verwirrt an. "Was heißt das, ich bin etwas Besonderes?", fragt er seine Mutter, als die ältere Dame weitergegangen ist. Dana umarmt ihre beiden Kinder und weint schon wieder. "Das werdet ihr wahrscheinlich erst in ein paar Jahren verstehen. Ich kann es euch nicht erklären, aber ihr seid so tolle Kinder. Ich habe euch so unendlich lieb.", flüstert sie unter Tränen. Die beiden Geschwister umarmen ihre Mutter und beruhigen sie ohne Worte.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt