"Was findest du eigentlich an ihr?", fragt Lukas nachdenklich. Ruby verschränkt die Arme vor der Brust. Sie kann nicht glauben, dass ihr Vater so etwas fragt. Normalerweise ist er immer total verständnisvoll und gerade jetzt, wo sie eine super tolle neue Freundin gefunden hat, ist er skeptisch? Ruby ist fassungslos. "Ella steht morgens immer vor der Schule und hört Musik. Sie scheint in einer vollkommen anderen Welt zu sein, wenn sie Musik hört. Das kenne ich nur zu gut und das macht sie gleich sympathisch. Sie hört sehr laut Musik, was sie auch noch mal sympathisch macht, weil ich das auch mache. Außerdem hört sie Nirvana, diese Band hat mich durch meine Pubertät gebracht, ohne dass ich mich umgebracht habe und ich denke, bei ihr ist es genauso.", antwortet Ruby. "Aber sie sagt nie etwas.", erwidert Lukas. "Sie spricht nicht, aber ihre Blicke sagen so viel. Man muss nicht so viel reden, um das mitzuteilen, was man fühlt.", erklärt die siebzehnjährige. Lukas schaut seine Tochter an und ist ein bisschen stolz, weil sie nicht so oberflächlich ist, wie scheinbar alle anderen Teenager. Eigentlich ist er sogar sehr stolz auf seine Tochter. "Ruby, du bist ein ganz besonderer Mensch und ich bin sehr stolz, dass du meine Tochter bist. Du bist nicht so oberflächlich wie die meisten in deinem Alter und du bist auch nicht so oberflächlich und arrogant wie deine Mutter. Irgendwas muss ich in der Erziehung wohl doch richtig gemacht haben.", sagt Lukas und man merkt sofort, wie stolz er auf seine Tochter ist. Ruby grinst ihren Vater an. "Du warst eben schon immer mein Vorbild und nicht Mama. Sie ging mir schon auf die Nerven, als ich noch ganz klein war. Ich habe mir immer geschworen, dass ich nie so werde wie sie. Und ich denke, das hat ganz gut geklappt.", erklärt die siebzehnjährige und ist genauso stolz auf ihren Vater.
"Was findest du eigentlich an dieser dämlichen Psychotusse?", fragt die zickige Klassensprecherin. Ruby steht auf und stellt sich mit verschränkten Armen vor ihr auf. "Ihr seid alle so oberflächlich und berechnend. Ihr tut so, als wärt ihr die besten Freundinnen, aber wenn es darauf ankommt, würdet ihr euch alle gegenseitig verraten und die Augen auskratzen. Ihr seid sowas von verlogen und falsch. Ella ist nicht so. Sie ist ehrlich und würde nie ein schlechtes Wort über ihre Freunde verlieren. Sie steht zu ihren Freunden, im Gegensatz zu euch.", erklärt Ruby. "Sie kann gar kein schlechtes Wort über ihre Freunde verlieren, weil sie erstens keine Freunde hat und zweitens spricht sie nicht.", entgegnet die Klassensprecherin. "Ihre Blicke sagen mehr als Worte und ihre Augen sind nicht so leer wie bei euch. Ihr seid nur dich Schatten eurer selbst, eurer Vorbilder oder eurer Eltern. Und das ist es, was diese Gesellschaft so kaputt macht. Jeder will etwas Besonderes sein, jeder will individuell sein, aber wehe jemand ist anders. Im Endeffekt seid ihr doch alle gleich. Nur Ella ist anders und deswegen hasst ihr sie so sehr.", erwidert die siebzehnjährige mit bebender Stimme. Die Klassensprecherin sagt nichts mehr. Sie starrt Ruby und Ella angewidert an. "Dann werdet doch glücklich miteinander.", ruft ein Junge und macht Knutschgeräusche. Die Mädchen schauen Ruby und Ella angewidert an. Die beiden Freundinnen grinsen sich an und ignorieren ihre Klassenkameraden.
Als Ruby zuhause ist, denkt sie unentwegt an Ella. Sie ist das Mädchen mit den gefühlvollen und vielsagenden Augen. Ella schaut die meiste Zeit auf den Boden. Sie ist das Mädchen, das den ganzen Tag Musik hört, um mit ihren Gefühlen klarzukommen. Ella ist das Mädchen, das es nicht interessiert, was andere über sie denken. Mit ihr fühlt sich Ruby schwerelos, als würden sie beide durch eine fremde Galaxie schweben. Die beiden haben sich von Anfang an gut verstanden, als wäre es vorbestimmt, als wären sie dafür gemacht, miteinander befreundet zu sein. Ella ist einfach anders als die meisten Mädchen in ihrem Alter. Ruby hat keine Ahnung, wie die Stimme ihrer Freundin klingt, aber in ihrem Kopf hat sie sich Ella's Stimme schon ausgemalt. "You are my sunshine, my only sunshine. You make me happy, when skies are gray. You'll never know dear, how much I love you. Please don't take my sunshine away.", singt Ruby und tanzt durch die Wohnung. In dieser Nacht träumt sie zum ersten Mal von Ella. Es war ein kurzer Traum und sie kann sich auch nur noch an einzelne Fetzen erinnern. Eigentlich kann sie sich nur noch an die Gefühle erinnern, die der Traum in ihr ausgelöst hat. Es ist ein Gefühl der Sicherheit, der Wärme und auch wenn sie es nicht zugeben will, das Gefühl, als wäre alles genau richtig. Ruby hat davon geträumt, dass sie sich näher kommen, dass sie sich lieben und dass sie einander gehören, voll und ganz. Sie hatten einander gehört, voll und ganz und ohne jegliche Einschränkung. Bei diesem Gedanken steigen ihr Tränen in die Augen, denn Ella wird nie mehr sein, als eine Freundin. Und sie kann niemandem davon erzählen, denn ihre sogenannten Freunde haben sie wahrscheinlich schon längst vergessen und mit ihrem Vater redet sie nicht über solche Dinge.
Auch Ella denkt die ganze Zeit an Ruby. Ihre neue Freundin ist die einzige, die sie so akzeptiert, wie sie ist. Abgesehen von Finn natürlich. Ruby ist ihr mittlerweile fast schon so wichtig geworden, wie ihr großer Bruder. Das hat bis jetzt noch niemand geschafft, nicht einmal Dana. "We're talking away. I don't know what. I'm to say, I'll say it anyway. Today's another day to find you shying away. I'll be coming for your love, okay? Take on me, take on me. Take me on, take on me. I'll be gone, in a day or two.", dringt es aus Ella's Boxen. Finn freut sich, denn der Plattenspieler seiner Schwester hat in den letzten Jahren fast nur traurige Platten abgespielt. "Hey Schwesterherz, bist du verliebt?", fragt er und steckt den Kopf in das Zimmer seiner jüngeren Schwester. Ella wirft ihm einen bösen Blick zu und schüttelt den Kopf. Finn springt auf das Bett seiner Schwester. "Du hattest doch schon seit Jahren keine gute Laune mehr. Liegt es etwa an deiner neuen Freundin?", fragt er und grinst. Ella wirft ihm einen weiteren bösen Blick zu. "Also hatte ich Recht. Bist du etwa in Ruby verliebt?", fragt Finn und grinst noch mehr. Seine Schwester drückt ihn auf das Bett und kitzelt ihn. Finn japst und bittet Ella, aufzuhören, aber die sechzehnjährige macht gnadenlos weiter, bis er verspricht, nie wieder ein Wort darüber zu verlieren. Finn freut sich, dass seine Schwester an ihrem Geburtstag so gute Laune hat, denn ihr Geburtstag ist für sie immer ein schrecklicher Tag gewesen. Niemand kennt den Grund, nicht einmal Finn, aber alle haben sich daran gewöhnt, dass sie Ella nicht zum Geburtstag gratulieren und dass dieser Tag ein Tag ist, wie jeder andere auch. Als Finn das Zimmer seiner jüngeren Schwester verlassen will, wirft sie ihm ein Kissen an den Kopf. Er will sie dafür gnadenlos kitzeln, aber als er gerade zum Angriff ansetzt, zeigt Ella ihrem Bruder eine Zeichnung von ihm, George und ihr. Ella hat sich ein Bild aus dem Fotoalbum geschnappt, es abgezeichnet und in einen wunderschönen Rahmen gesteckt. Als Finn das Bild in den Händen hält, formt sie mit ihren Fingern ein Herz. "Danke, das ist das schönste Geburtstagsgeschenk der Welt.", flüstert Finn, der am gleichen Tag Geburtstag hat, wie seine jüngere Schwester. Und er weiß ganz genau, wie schwer es Ella gefallen sein muss, das Bild zu zeichnen.
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Silentium | LGBTQ
Teen FictionElla spricht nicht. Ihr Schmerz ist zu groß. Aber als Ruby in ihr Leben tritt, wird Ella's Entschluss auf eine harte Probe gestellt. »Unter allen Torheiten, die ein Mädchen begeht, ist immer ihre erste Liebe eine der größten.«