Silentium | LGBTQ

Das stille Mädchen

"Ella, willst du Fruit Loops oder Pfannkuchen zum Frühstück?", fragt ihre Mutter Dana. Die sechzehnjährige zeigt auf die Pfannkuchen. Ihre kleine Schwester Marie schüttelt genervt den Kopf. "Rede doch einfach, du gestörte Ziege!", ruft die zwölfjährige wütend. "Halt die Klappe, du ignorantes, kleines Biest.", sagt Finn, der große Bruder. Er ist der einzige, der Ella versteht und er verteidigt sie in jeder Situation. "Hört auf, alle.", ermahnt Tom seine Kinder und trinkt seinen Kaffee. "Sie ist ein verdammter Freak. Meine Freundinnen haben Angst vor ihr.", erklärt Marie. "An deren Stelle hätte ich eher Angst vor dir.", entgegnet Finn. "Schluss jetzt. Ihr frühstückt und danach macht ihr euch auf den Weg zur Schule.", sagt Dana. Finn wirft Ella einen genervten Blick zu und das Mädchen lächelt. "Papa, kannst du mich zur Schule bringen?", fragt Marie zuckersüß. Tom schüttelt den Kopf. "Ich muss heute nach Düsseldorf fahren. Frag doch deinen Bruder.", schlägt er vor. Finn verschränkt augenblicklich die Arme vor der Brust. "Denkst du ernsthaft, dass ich zu spät kommen will, weil das kleine Monster sich fünf Kilo Make-up in ihr Gesicht schmieren muss? Ich habe echt besseres zu tun.", erklärt er seinem Vater. "Ich will auch gar nicht mit diesem Idioten fahren, sein Auto ist außerdem eine Schande für die gesamte Menschheit, darin kann ich mich doch nicht blicken lassen!", ruft das pubertierende Mädchen entrüstet. Finn und Ella stehen auf und verlassen das Haus. "Und wer fährt mich jetzt?", fragt Marie. Dana zuckt mit den Schultern. "Dann nimmst du eben den Bus.", antwortet Tom. Die zwölfjährige explodiert fast. "Aber alle meine Freundinnen werden gefahren!", ruft sie. "Wenn deine Freundinnen in den Rhein springen, springst du dann hinterher?", fragt Dana. Marie zuckt genervt mit den Schultern und macht sich auf den Weg in ihr Zimmer, das Finn immer als 'Die pinke Hölle von Köln' bezeichnet.

Ella und Finn fahren mit seinem alten Golf zur Schule. Sie hören Musik aus den achtzigern, die beide total cool finden. "Das war wenigstens noch gute Musik.", ruft Finn, da die Musik so laut ist. Ella nickt zustimmend und ihr Bruder lächelt. Als sie vor der Schule parken, wird Ella nervös. Finn bemerkt das sofort und nimmt ihre Hand. Die Geschwister lächeln sich an. Plötzlich schlägt jemand gegen die Scheibe. "Hey, du Freak! Redest du heute?", fragt er und lacht. Ella schaut traurig auf den Boden. Finn zeigt dem Jungen den Mittelfinger. "Verpiss dich, du Zwerg.", ruft er. Der Junge rennt lachend weg. "Du musst dich wehren.", sagt Finn ruhig zu seiner Schwester. Sie schüttelt traurig den Kopf. "Die Idioten haben keine Ahnung. Dann ignorier sie wenigstens. Die sind es nicht wert.", erklärt er. Ella nickt und steigt aus. Finn umarmt seine Schwester und danach gehen sie zu seinen Freunden. Sie akzeptieren Ella und haben sie in ihren Freundeskreis aufgenommen. "Das Gras wird gebeten, über die Sache zu wachsen.", flüstert Oliver. Die Jugendlichen grinsen und laufen in den Wald, wo Oliver einen Joint aus dem Versteck holt. Die Jungs reichen den Joint im Kreis weiter. Normalerweise gibt Ella den Joint immer weiter, aber heute nimmt sie drei tiefe Züge. Finn schaut seine Schwester besorgt an und seine Freunde beobachten sie gespannt. Ella grinst in drei gespannte und ein besorgtes Gesicht. "Ist alles in Ordnung?", fragt Finn besorgt. Seine Schwester nickt. Langsam spürt sie die Droge und die ganze Anspannung fällt von ihr ab. "Wenn was ist, schreib mir bitte.", flüstert er. "Uns kannst du natürlich auch schreiben. Aber bitte genieße es. Das erste High ist das Beste.", erklärt Oliver. Ella nickt und lächelt. Jetzt fühlt sie sich erwachsen, weil sie etwas verbotenes gemacht hat. Die Freunde begleiten das Mädchen zu ihrem Klassenraum.

"Ey, Frankenstein! Du bist scheiße!", ruft ein Junge aus ihrer Klasse. Ella schenkt ihm ein überlegenes Lächeln. 'Was für ein Idiot.', denkt sie. "Du hast kein Geld für richtige Klamotten, kann das sein?", fragt ein Mädchen. "Hast du überhaupt Klamotten, die nicht schwarz oder dunkelgrau sind? Bist du ein verdammter Vampir?", ergänzt ihre Sitznachbarin. Ella setzt sich in die letzte Reihe, die sie für sich alleine hat und liest ein Buch. Der Lehrer betritt schlecht gelaunt den Raum. Mit einem einzigen Blick bringt er die Klasse zum Schweigen. Der Lehrer beginnt mit dem Unterricht. Ella kümmert das nicht, da sie sich im Unterricht mehr als unterfordert fühlt. Sie musste vom Gymnasium auf die Realschule wechseln, da ihre Lehrer der Meinung waren, dass ein stummes Mädchen nichts auf einem Gymnasium zu suchen hat. Das Mädchen ist nicht dumm, eigentlich ist sie sogar sehr schlau, sie spricht einfach nur nicht. Ella konnte bereits mit vier Jahren lesen und mit fünf Jahren konnte sie schreiben. Damals waren Dana und Tom stolz auf ihre Tochter. Sie hat das Zitat von Albert Einstein 'Wer schweigt, stimmt nicht immer zu, er hat nur keine Lust, mit Idioten zu diskutieren.' sehr wörtlich genommen.

"Ella, ist dir der Unterricht zu langweilig?", fragt der Lehrer sauer. Das Mädchen nickt. "Dann hältst du nach der Pause einen Vortrag über Martin Luther.", bestimmt er, obwohl er genau weiß, dass das Mädchen nicht redet. Sie wirft ihm einen Blick zu, bei dem er augenblicklich tot umfallen würde, wenn Blicke töten könnten. "Pack sofort dein dämliches Buch weg und hör mir zu.", sagt er mit drohender Stimme. Ella grinst ihn spöttisch an und liest weiter. Der Lehrer rennt nach hinten und nimmt ihr das Buch weg. Das Mädchen kocht innerlich vor Wut. Als es klingelt, läuft sie sofort nach draußen, zu ihrem geheimen Platz. Ein paar Minuten später setzt sich Finn neben sie. "Du hattest das Arschloch, oder?", fragt er. Das Mädchen nickt. Ihr Bruder schaut wütend ins Leere. "Was  hat er gemacht?", fragt er. Ella schaut ihn mit Tränen in den Augen an. "Hat er dich beleidigt?", fragt er. Sie schüttelt den Kopf. "Hat er dir dein Buch weggenommen?", fragt Finn weiter und seine Schwester nickt. "Was für ein dämlicher Idiot.", flüstert er angespannt. Ella legt ihm ihre Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen.

Den restlichen Schultag zeichnet Ella und kein Lehrer sagt etwas dazu. Die meisten Lehrer lassen sie in Ruhe, da sie das Mädchen aufgegeben haben. Als es klingelt, rennt sie zum Parkplatz. Ein paar Jungs aus ihrer Klasse folgen ihr. "Na, sprichst du für mich?", fragt Max. Ella schaut ihn böse an. Die anderen Jungs packen sie und schubsen sie hinter die Sporthalle. "Du bist ja schon heiß.", bemerkt Max. Das Mädchen spuckt ihm ins Gesicht und rennt weg. "Das wirst du noch bereuen!", ruft er ihr wütend hinterher. Sie rennt zurück zum Parkplatz, wo Finn wartet. "Ist was passiert?", fragt er. Ella schüttelt den Kopf und steigt ein. Ihr Bruder schaut sie verwirrt an und steigt auch ein. Er bemerkt, dass etwas mit seiner kleinen Schwester nicht stimmt, aber sie tut so, als wäre alles in Ordnung. Manchmal wünscht er sich, dass sie einfach mal reden würde, wenigstens mit ihm. Am Anfang hatte er kein Verständnis dafür, aber er war damals dreizehn und mitten in der Pubertät. Irgendwann hat er seine Schwester verstanden und hat beschlossen, dass er immer für sie da sein wird. Ella vertraut nur ihm und das bedeutet ihm unendlich viel.

Seine Schwester ist ein ganz besonderer Mensch und manchmal kommt es ihm so vor, als wäre er der einzige, der das bemerkt. Zu Marie hat er nicht so ein gutes Verhältnis, denn das kleine Monster ist seiner Meinung nach die Tochter von Satan. Marie war damals noch zu klein, um alles zu verstehen, trotzdem versteht Finn nicht, warum sie ihre große Schwester offensichtlich so sehr hasst. Manchmal möchte er Ella einfach in sein Auto stecken und mit ihr irgendwo hinfahren, wo sie beide glücklich sind. Seine Eltern findet er auch nicht besonders toll. Sie haben sich zwar mittlerweile mit der Situation abgefunden, aber am Anfang sind sie mit Ella zu zwanzig verschiedenen Psychologen gegangen, die ihr nicht helfen konnten. Sie haben ihr verschiedene Medikamente verschrieben, aber niemand hat verstanden, was Ella wirklich gebraucht hätte. Finn hat das bemerkt und ist seitdem immer für seine Schwester da.