Das zweite Trauma

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"Ella? Ella? Ella!", ruft Finn und reißt seine jüngere Schwester aus einem schrecklichen Albtraum. Sie wacht augenblicklich auf und hat große Schwierigkeiten, sich in der Realität zurecht zu finden. "Es ist alles in Ordnung, du hast geträumt.", erklärt Finn und streicht seiner Schwester über die Haare. Auch beim Frühstück ist die sechzehnjährige noch ziemlich durcheinander. Auf die Frage ihrer Mutter, ob alles in Ordnung sei, reagiert sie nicht. Diesen Trancezustand legt sie auch während der Schulzeit nicht ab und als Ruby sie darauf anspricht, reagiert sie wieder nicht. "Ella? Was ist los?", fragt Ruby besorgt. Die siebzehnjährige macht sich Sorgen um ihre Freundin. "Ignoriert sie dich jetzt auch schon? Das kann ja was werden.", bemerkt Bianca, eine Zicke aus ihrer Klasse. "Weißt du was, Bianca, halt einfach deine verdammte Fresse. Du hast zu allem eine Meinung und musst sie uns auf die Nase binden. Vielleicht interessieren sich deine Eltern für den geistigen Durchfall, den du täglich von dir gibst, aber ich interessiere mich dafür nicht und Ella genauso wenig. Also tu uns bitte den Gefallen und sei einfach leise.", entgegnet Ruby. "Wir haben dich vor der falschen Schlange gewarnt. Sie ist vielleicht stumm, aber deswegen ist sie noch lange nicht blöd. Sie hört uns immer zu und plant ihre Rache. Mich würde es nicht wundern, wenn sie heimlich einen Amoklauf plant.", eilt Lea ihrer besten Freundin Bianca zur Hilfe. Aber auch von ihr lässt sich Ella's neue Freundin nicht beeindrucken. "Lea, ich kenne dich nicht lange, aber ich denke dass ich dich ganz gut durchschaut habe. Du dackelst deiner besten Freundin hinterher und bemerkst nicht, dass ihr in dieser Freundschaft nicht gleichgestellt seid. Du bist nur ihr Handlanger, mehr nicht. Genauso gut könnte es eine von den anderen Mädchen sein, die im übrigen alle gleich aussehen. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass sie Bianca anhimmeln und unbedingt mit ihr befreundet sein wollen? Und du bist wohl eine sogenannte Freundin von ihr. Sie behandelt dich wie Müll und du merkst es nicht. Eigentlich ist das ziemlich schade, denn ich denke dass du ganz nett sein könntest, wenn du dich nicht von diesem Haufen Dreck beeinflussen lassen würdest.", schießt Ruby zurück und mustert Lea und Bianca mitleidig von oben bis unten. Die beiden Freundinnen starren Ella und Ruby mit einem sehr bösen Blick an. Wenn Blicke töten könnten, würden Ella und Ruby augenblicklich tot umgefallen, aber die beiden lächeln sich nur gegenseitig an und Ella erwacht langsam aus ihrer Trance.

Während des Unterrichts schreiben sich Ruby und Ella wieder Zettel. Die sechzehnjährige bedankt sich bei ihrer neuen Freundin, dass sie sie wieder einmal verteidigt hat und sie versichert Ruby, dass sie niemals einen Amoklauf geplant hätte. Ruby schreibt zurück, dass sie ihr das auch gar nicht zugetraut hätte. Als Ella das liest, steigen Schuldgefühle in ihr auf. Das jahrelange Mobbing hat sie kaputt gemacht. Die sechzehnjährige hat ihre Klassenkameraden immer genau beobachtet. Bianca ist ein Einzelkind und wird von ihren Eltern wie eine Prinzessin behandelt. Die Eltern wollen ihr das bieten, was sie in ihrer Kindheit und Jugend nicht hatten. Dabei haben sie ihre Tochter leider zu sehr verwöhnt und sie hat jeglichen Bezug zur Realität verloren. Jedes Jahr bekommt sie das neueste Handy oder den neuesten Laptop. Natürlich trägt sie ihre Klamotten auch höchstens eine Saison lang und wirft sie danach weg. Manchmal wünscht sich Ella, dass Bianca bei einer armen afrikanischen Familie leben würde, wenigstens für ein paar Wochen, damit sie den Wert des Geldes wieder schätzt. Aber oft hat sich Ella vorgestellt, wie es sein würde, ihr ein Messer in den Bauch zu rammen. Lea hat zwei kleinere Geschwister und ihre Mutter ist alleinerziehend. Trotzdem versucht sie mit den Eltern von Bianca mitzuhalten und ihrer Tochter die neuesten Klamotten zu kaufen. Dafür hat sie sogar extra einen zweiten Job angenommen, bei dem sie noch härter arbeiten muss, als bei ihrem ersten Job und das alles macht sie für ihre Tochter. Dafür steht sie jeden Morgen um vier Uhr auf und kommt erst um fünf Uhr am Abend nach Hause. Lea ist ihrer Mutter leider kein bisschen dankbar und seit sie Bianca kennt, behandelt Lea ihre Mutter wie ihre persönliche Sklavin. Die Mutter wehrt sich nicht, denn auch gegen den gewalttätigen Vater konnte sie sich jahrelang nicht wehren. Als er dann endlich die Familie verlassen hatte, war die Mutter von Lea zum ersten Mal seit Jahren wieder glücklich und konnte aufatmen. Sie ist wieder aufgeblüht und jetzt wird sie von ihrer Tochter psychisch so fertig gemacht, wie es ihr Mann früher getan hat. Manchmal wünscht sich Ella, dass Lea ihre Mutter wieder besser behandelt, aber manchmal stellt sie sich vor, wie es ist, ihren Kopf so lange auf den Boden zu schlagen, bis jegliches Leben aus ihr entwichen ist. Vivian ist das Mathegenie in der Klasse. Sie wurde bereits als fünfjährige von ihren Eltern gefördert. Sie soll Medizin studieren und darf sich nicht oft mit ihren Freunden treffen. Trotzdem ist sie irgendwie mit Lea und Bianca befreundet. Michelle ist nur hier, damit ihre Eltern stolz auf sie sind. Eigentlich will sie Kosmetikerin werden und ein eigenes Studio eröffnen. Sie ist mit Lea, Bianca und Vivian befreundet. Und da sind noch so viele andere. Alle haben es auf Ella abgesehen, sie gibt das perfekte Feindbild ab, ohne dass sie den anderen irgendwann etwas getan hätte.

Ruby bemerkt sofort, dass Ella wieder gedanklich abschweift. Die siebzehnjährige versucht mehrmals, ihre neue Freundin anzusprechen, aber Ella reagiert nicht. Nach der Schule begleitet Ruby ihre Freundin zu Finn, der sich große Sorgen um seine Schwester macht. "Sie hat auf nichts und niemanden reagiert, nicht mal auf mich. Hat sie das öfter?", fragt Ruby besorgt. "Manchmal passiert es, dass sie so abwesend ist und gar nicht reagiert, aber das ist schon lange nicht mehr passiert.", erklärt Finn. "Aber warum? Gibt es dafür einen speziellen Grund?", fragt Ruby. "Soweit ich weiß, gibt es keinen Grund dafür.", lügt Finn, der Ruby zwar ein bisschen vertraut, aber noch nicht genug, um ihr davon zu erzählen. Ruby verabschiedet sich von Ella, die noch immer nicht reagiert. Finn fährt seine jüngere Schwester nach Hause und bleibt auch dort, obwohl er zur Arbeit gehen müsste. Als Ella aus ihrem Trancezustand erwacht, schaut sie Finn fragend an, denn sie weiß genau, dass er heute arbeiten muss. "Denkst du ernsthaft, dass ich dich in den Zustand alleine zu Hause lasse?", fragt er. Seine Schwester schaut ihn böse an. Er weiß nämlich ganz genau, dass Ella kein kleines Kind mehr ist, um das er sich kümmern muss. Er deutet ihren Blick richtig und fragt, ob er sie alleine lassen kann. Die sechzehnjährige nickt und Finn macht sich auf den Weg zur Arbeit, obwohl er lieber bei seiner Schwester geblieben wäre. Als er weg ist, schließt sich Ella in ihrem Zimmer ein und weint.

Der Tod von George ist nicht das einzige Trauma von Ella. Heute ist der sechzehnte März und dieser Tag ist für Ella besonders schlimm. Vor zwei Jahren hatte Ella eine beste Freundin. Julia war die einzige, die sie verstanden hat. Aber Julia war auch eine Person, die gerne gegen Regeln verstoßen hat und neue Dinge ausprobiert hat, auch wenn diese neuen Dinge illegal oder gefährlich waren. An einem Nachmittag im Februar hat sie beschlossen, dass die beiden Freundinnen unbedingt einmal Gras ausprobieren sollten und sie hatte auch schon Kontakt zu einem Dealer. Die beiden Mädchen haben diesen Dealer besucht und er war ganz begeistert von Ella, auch wenn sie nicht gesprochen hat. Die drei haben oft zusammen Gras geraucht und Julia und Ella waren fast jeden Tag bei ihm. Ella hat auch ein bisschen für ihn geschwärmt und eine Woche später waren sie zusammen. Als nächstes hat er ihnen Ecstasy gezeigt, eine Droge, die dafür sorgt, dass man jeden Menschen umarmen möchte, auch wenn man diesen Menschen hasst. Julia und Ella waren begeistert von Ecstasy. von nun an ist Ella auch mal alleine zu ihrem Freund gegangen und sie haben zusammen Ecstasy genommen. Nach ein paar Tagen wollte er mit ihr schlafen, aber Ella wollte das nicht. Anfangs schien er es zu akzeptieren, aber am sechzehnten März hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle. Sie haben sich getroffen, um gemeinsam einen Film zu schauen. Für Ella hatte er extra ihren Lieblingssaft gekauft und er hat er etwas in den Saft gemischt. Die damals vierzehnjährige hat das am Anfang nicht bemerkt. Erst als sie müde wurde und sich hingelegt hat, dachte sie, dass das nicht normal wäre. Er hat sich zu ihr gelegt und sie ausgezogen. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie sich nicht einmal mehr richtig wehren. Trotzdem hat sie geschrien und um sich getreten, aber er war stärker. Nachdem er fertig war, hat er gesagt, dass er Ella liebt, aber das Mädchen konnte ihm kein einziges Wort glauben. Sie ist schnell nach Hause gegangen und als sie zu Hause war, hatte sie eine Nachricht von ihm. In dieser Nachricht stand, dass sie auf keinen Fall jemandem davon erzählen soll, ansonsten würde er ihrem großen Bruder etwas antun. Er wusste, dass Finn alles für Ella war und das hat er ausgenutzt. Er hat Ella fast eineinhalb Jahre lang jeden zweiten Tag missbraucht und das Mädchen hat geschwiegen und es über sich ergehen lassen. Für ihren Bruder hat sie das auf sich genommen.

Ella schämt sich bis heute für das, was ihr passiert ist und sie möchte niemals darüber reden und niemandem davon erzählen. Sie fühlt sich dreckig. Weinend liegt sie im Bett, aber sie ist darauf bedacht, dass sie niemand hört, deswegen weint sie sehr leise. Beim Abendessen scheint sie wieder ganz die Alte zu sein, aber Finn beobachtet sie noch immer besorgt. Dana ist heute Abend nicht zu Hause, also hat Finn gekocht. Der achtzehnjährige kann sehr gut kochen und Ella kocht gerne mit ihm, weil es mit ihm immer lustig ist. Nach dem Essen schauen die beiden noch einen Film und Ella kehrt langsam komplett in die Realität zurück. Ihr wird klar, dass sie ihre Vergangenheit nicht verändern kann und dass sie eigentlich auch gar nicht schuld daran ist, was ihr passiert ist. Trotzdem wünscht sie sich, dass dieser man eines Tages seine gerechte Strafe bekommt. Sie konnte ihn damals nicht anzeigen, denn dann hätte sie genau berichten müssen, was ihr passiert ist und dafür war sie nicht stark genug und sie wollte ihrer Familie dieses Trauma ersparen. Finn hätte den Typen wahrscheinlich umgebracht und würde deswegen im Gefängnis sitzen und das wollte Ella zu keinem Zeitpunkt. Ihre Mutter wäre daran kaputt gegangen und das wollte sie genauso wenig. Also versucht die sechzehnjährige damit klarzukommen und zu überleben. Bis jetzt hat das ganz gut geklappt und Ella ist fast schon ein bisschen stolz auf sich. Wenigstens das hat sie bis jetzt ganz gut geschafft.

Silentium | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt